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Glutroter Mond

Glutroter Mond

Titel: Glutroter Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Narcia Kensing
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unsere Opfer durchfüttern können. Dann halten sie länger.« Igitt. Wie rede ich denn? Habe ich das gerade wirklich gesagt?
    Vince klopft mir auf die Schulter. »Gut mitgedacht. Wir haben nicht mehr viel Menschennahrung im Quartier. Hast du schon gegessen?«
    Ich schüttele den Kopf und könnte mich im selben Moment dafür ohrfeigen. Ich weiß, was jetzt zwangsläufig folgen wird.
    »Gut, ich auch nicht. Lass uns jagen gehen und dann nach Hause fahren. Wo steht das Auto?«
    »Am Hafen.«
    Vince nickt. »Das Motorrad werde ich behalten. Es gefällt mir.«
    Vince dreht sich um und geht die Straße entlang zurück in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Zähneknirschend folge ich ihm. Ich habe keinen Hunger und Vinces sadistische Spielchen mit seinen Opfern kenne ich. Darauf hatte ich nicht einmal Lust gehabt, als ich noch wie ein Acrai gedacht habe. Jetzt ekelt es mich einfach nur noch an. Nun ja, vielleicht belässt er es heute auch einfach mal beim einfachen Akt der Nahrungsaufnahme, ohne Knochen zu brechen und ohne den Leuten Brandmale mit Zigarettenstummeln in die Haut zu brennen.
    Wir bewegen uns durch ein Viertel, das Lower Manhattan gar nicht so unähnlich ist. Auch hier stehen noch Wolkenkratzer, die mehr als sechzig Etagen aufweisen. Allerdings sind sie alle leer, ausgeschlachtet, das blasse Abbild des Glanzes, den die Stadt in besseren Zeiten einmal versprüht hat. Ich vermisse diese Zeit. Den Lärm einer Großstadt, das Rauschen des Verkehrs, das Heulen von Sirenen, die Lichter, die die Häuserschluchten auch bei Nacht niemals haben dunkel werden lassen. Sie haben sich in den Pfützen auf dem Asphalt gespiegelt, ein Meer aus Farben. Jetzt ist alles trostlos und tot. Nicht wenige Gebäude sind dem Verfall gänzlich anheim gefallen, sei es durch den erbitterten letzten Krieg oder durch die Naturgewalten. Schutzlos Wind und Wetter ausgesetzt, bröckelt der Putz von den Fassaden, rostige Stahlträger ragen aus den abgebrochenen Überresten der Betonriesen heraus. Überall in den Straßen liegt Schutt und Müll. Ganz so schlimm sieht es in Manhattan nicht aus, denn immerhin haben die V23er das Ausmaß der Zerstörung durch Aufräumarbeiten begrenzt. Ein Tropfen auf heißem Stein, aber zumindest sehen einige Wohnblocks dort schon wieder einigermaßen bewohnbar aus. Anders in Jersey City. Hier hat sich keiner die Mühe gemacht, die Folgen des Kriegs zu beseitigen. Offiziell dürfen hier nicht einmal Menschen leben. Sie müssen sich verstecken. Vor den V23ern - und vor uns.
    Vince steuert zielstrebig auf einen Park zu, eingebettet zwischen den Piers in der Upper New York Bay und der Bundesstraße 440. Direkt gegenüber verlaufen Gleise, doch sie sind verrostet und von dornigem Unkraut überwuchert. Schon seit einhundert Jahren fahren hier keine S-Bahnen mehr. Der Park hat seinen Namen nicht verdient, das hatte er auch schon nicht, als Jersey City noch florierte. Hässliches braunes und zertrampeltes Gras, durchbrochen von derbem Schilf, das war nie ein schöner Ort gewesen. Dennoch weiß ich, dass es ein Treffpunkt für Paare war. Wenn man den Pier bis zu den Docks an dessen Ende entlang läuft, hat man einen vortrefflichen Blick auf die Freiheitsstatue. Natürlich ist das in der Vergangenheit nicht ganz legal gewesen, weil die Docks Eigentum der Werft waren. Keine Ahnung, ob die Menschen auch heute noch einen Sinn für Kulturbauwerke haben, jedenfalls dürfte der Pier heutzutage nicht mehr bewacht sein. Anscheinend glaubt Vince jedoch, hier auf potenzielle Opfer zu treffen.
    Wir gehen ein paar Yards am Ufer entlang, ehe er mir mit einer Geste zu verstehen gibt, stehen zu bleiben.
    »Da vorne. Siehst du sie? Ich habe sie schon verfolgt, ehe ich dich getroffen habe«, flüstert Vince. »Mir war von vornherein klar, wohin sie gehen. Mein Gespür hat mich nicht getäuscht.«
    Direkt am Ufer, keine dreißig Yards vor uns, sitzen zwei Personen, ein Mann und eine Frau. Sie lassen die Beine über die Kaimauer hängen. Ihre Füße sind nackt, am Körper tragen sie fleckige T-Shirts, die ihre besten Tage auch längst hinter sich haben. Sie haben uns nicht bemerkt, sondern plaudern angeregt miteinander. Vermutlich glauben sie, hier sicher zu sein. Für gewöhnlich verirrt sich auch niemand zu den verlassenen Docks, nicht einmal die V23er. Die konzentrieren sich eher auf die bewohnten Stadtviertel, wenn sie überhaupt einmal hierher kommen. Ich schätze die beiden auf Ende zwanzig. Die blonden Haare der Frau sind zersaust

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