Glutroter Mond
trösten? Er zuckt leicht unter meiner Berührung, als hätte er sich verbrannt. Zeitgleich durchströmt mich ein Impuls, wie ein elektrischer Schlag. Verzweiflung. Frustration. Und noch etwas anderes, weicheres ist dort in ihm. Etwas, das meine Adern umspielt wie Watte. Liebe? Es dauert nur den Bruchteil eines Augenblicks, ehe der Moment verflogen ist. Ein Widerhall der Emotionen, die in Cade toben. Er hat sie von mir gelernt, ich habe sie ihm gegeben. Er fühlt sich dadurch so vertraut an wie mein eigener Körper.
Cade dreht sich noch einmal zu mir um, meine Hand gleitet von seiner Schulter weiter hinab zu seiner Hand. Sie ist groß und kräftig. Kühl, aber nicht unangenehm. Er lässt es geschehen.
Sein Blick zuckt über mein ärmelloses Hemdchen. »Du bist makellos«, sagt er. »Schöner als andere Menschen.«
Mich überraschen seine Worte. Damit hätte ich nun als letztes gerechnet, weshalb ich ihm auch nichts erwidere. Ich sehe ihn bloß an. Für die Dauer eines Herzschlags versinke ich in seinen Augen, ehe er schnaubt und auf dem Absatz kehrt macht. Meine Hand rutscht von seiner herunter, aber dort, wo wir uns berührt haben, glaube ich noch immer, ihn zu spüren.
»Ich komme gleich wieder«, murmelt er und steuert auf die Tür zu. Mit einem Kreischen schwingt sie auf. Dann ist er verschwunden.
***
Während Cade weg ist, weiß ich nichts mit mir anzufangen. Ich friere ein wenig, obwohl es Sommer ist. In der Lagerhalle ist es kühl und das dünne Unterhemd wärmt mich nicht. Mein Anzug hat aufgehört zu tropfen, aber er ist noch immer klitschnass. Ich kann ihn noch nicht anziehen. Ich sehe auf meine Füße hinab. Die gelben Sommerschläppchen, die ich schon seit Tagen trage, sind an der Sohle durchgescheuert. Meine Socken habe ich ausgezogen und hinter der Halle auf einen Schutthaufen geworfen. Sie sind nicht mehr zu gebrauchen, bestehen aus mehr Löchern als Stoff. Ich fahre mir mit den Händen durch die Haare. Sie sind fast getrocknet und stehen jetzt wieder in widerspenstigen Locken von meinem Kopf ab.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich in meinem Leben je in einer so aussichtslosen Situation gesteckt hätte. Am liebsten würde ich Cade darum bitten, mit mir an einen Ort zu gehen, wo niemand nach uns sucht. Aber Flucht ist keine Lösung. Ich lasse Neal nicht im Stich. Außerdem muss Cade zu seiner Sippe zurück. Es wäre egoistisch, in Kauf zu nehmen, dass Cade töten muss, um zu überleben.
Ich muss jetzt stark sein. Es wird schon irgendwie weitergehen. Uns wird etwas einfallen. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, weder auf Neal noch auf Cade zu verzichten. Wir könnten uns in der Nähe des Quartiers niederlassen. Ich könnte Cade besuchen und er mich.
Ein verzweifelter und lächerlicher Irrglaube. Wovon sollten Neal und ich in der Einöde leben? Neal würde nie akzeptieren, dass ich den Kontakt zu Cade aufrecht erhalte, und Cade würde mich nicht mit Neal teilen. Er hat es mir mehr als deutlich zu verstehen gegeben, obwohl ich für Neal keine Liebe empfinde. Jedenfalls nicht die Art von Liebe, die er für mich empfindet. Ich ahne schon seit Jahren, dass seine Gefühle tiefer gehen und habe mich immer davor gefürchtet, dass er mich eines Tages vor die Wahl stellen könnte. Jetzt ist es bald soweit. Ich werde mich entscheiden müssen. Ich brenne darauf, von Neal zu erfahren, wie er es überhaupt geschafft hat, aus der Gewalt der Obersten zu fliehen. Und weshalb er den Acrai wieder in die Arme gelaufen ist ... Ich werde bald Antworten erhalten.
Die Tür öffnet sich. Wieder fahre ich ob des markerschütternden metallischen Kreischens zusammen. Cade kommt herein, über seinem Arm hängt Stoff. Kleidung? Mein Atem stockt, als er auf mich zukommt. Ich bin nie zuvor einem Mann begegnet, der mein Herz nur durch seine Anwesenheit zum Rasen bringt. Die geheimnisvolle Düsternis hinter seinen Augen ängstigt und fasziniert mich zugleich, das hat sie vom ersten Tag an getan. Sein Wesen ist ungreifbar, schattenhaft und voller Rätsel. Es ist das Unbekannte an ihm, das mich magisch anzieht. Unbekannt einerseits, vertraut andererseits, denn das Funkeln in seinen Augen, seit gestern erst getränkt von Empathie, stammt von mir selbst. Ich habe etwas von mir gegeben, um ihm Leben einzuhauchen. Ja, das war es, das ihm bis vor vierundzwanzig Stunden noch gefehlt hat: Leben.
Cade streckt mir die Kleidungsstücke hin. Zögerlich greife ich danach. Ein helles weites Shirt und eine kurze dunkle Hose,
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