Glutroter Mond
beide offensichtlich nicht neu. Der Duft von fremder Haut steigt mir in die Nase, als ich Luft aufwirble.
»Woher hast du das?«
Cade zuckt die Achseln. »Auf dem Pier nebenan liegen zwei junge Menschen. Sie haben keine Verwendung mehr dafür.«
Ich frage nicht weiter nach. Ich möchte das gar nicht so genau hören. Ich kann mir denken, was mit ihnen passiert ist. Mir ist nicht wohl dabei, die Kleidung von Toten überzustreifen, aber ich kann unmöglich fast nackt das Gebäude verlassen.
Widerwillig ziehe ich Shirt und Hose an. Sie sind mir ein wenig zu groß, ich versinke darin. Auf Cades Gesicht stiehlt sich ein Lächeln, das mir einen wohligen Schauder über den Rücken jagt. Er lächelt wunderschön, wenn es von Herzen kommt.
»Ich habe zuerst gedacht, die Sachen könnten dir zu klein sein«, sagt er. »Da habe ich mich wohl verschätzt. Du bist winzig und dürr.«
Ich erwidere sein Lächeln gequält. »Fahren wir jetzt zurück zum Quartier?« Mir tut es im selben Moment leid, diese Frage gestellt zu haben, denn ich zerstöre den Anflug von Heiterkeit und Cades Lächeln erstirbt abrupt.
»Ja. Es wird bald schon wieder dunkel. Vince wird sich fragen, weshalb ich so lange weg bin. Außerdem hat es leicht zu nieseln begonnen. Ich spüre den Regen auf meiner Haut brennen wie tausend Nadeln.«
Am liebsten hätte ich Cade angefleht, noch eine Nacht zu bleiben und das Unvermeidbare hinauszuzögern, doch dann fällt mir Neal wieder ein. Er braucht mich. Ich nicke nur, stoße ein Seufzen aus und gehe auf die Tür zu. Zuvor nehme ich die Postkarte mit dem Abbild von Hollywood vom Boden auf. Ich habe sie aus dem Anzug genommen, bevor ich ihn gewaschen habe. Meine neue Hose hat ebenfalls eine Tasche. Darin versenke ich die Karte. Dann nehme ich den Rest des Brotes auf. Es ist noch fast die Hälfte übrig. Cade kommentiert es nicht. Er wartet, bis ich damit fertig bin und steuert wieder auf die Tür zu.
Das Auto parkt unweit der Halle. Cade schließt auf und ich rutschte auf den Sitz rechts neben ihn. Das Brot lege ich auf den Rücksitz. Er steigt wortlos ein und startet den Motor. Wir verspüren beide Unbehagen bei dem Gedanken, zum Quartier der Acrai zurückzufahren. Ich sehe es in Cades Augen. Auch die Art, wie er verkrampft das Steuerrad umfasst, lässt auf Nervosität schließen. Er fürchtet sich ebenso wie ich vor dem, was vor uns liegt.
Cade biegt auf die breite mehrspurige Straße ein. Das Auto wird schneller und schneller, es presst mich in meinen Sitz. Ich unterdrücke die Angst, die wieder in mir aufsteigen will. Allmählich sollte ich mich daran gewöhnen, in einem Auto mitzufahren.
Ich zwinge mich dazu, mich mit einem Blick aus dem Fenster abzulenken. Schon kurz hinter der Stadtgrenze werden die Häuser wieder niedriger. Wenn ich nach rechts sehe, kann ich manchmal das Wasser des East River sehen. In der Ferne ragen die Gebäudegiganten von Manhattan in den grauen Dunst des sterbendes Tages. Über ihnen flirrt der Energieschild, der die Einwohner davon abhält, das Stadtgebiet zu verlassen. Ich habe immer geglaubt, er schütze uns vor Viren und anderen Krankheiten, dass die Welt kurz dahinter ohnehin zu Ende sei. Alles eine Lüge. Ich reiße den Blick davon los und sehe nach vorne.
Cade betätigt einen Schalter. Zwei längliche Stäbe, an denen Gummilippen befestigt sind, quietschen einen Bogen beschreibend über die Frontscheibe. Ich erschrecke so sehr, dass ich einen laut der Überraschung ausstoße. Cade lacht.
»Scheibenwischer, Holly! Bloß Scheibenwischer! Es regnet, wie soll ich sonst die Straße erkennen?«
Ich lehne mich wieder in den Sitz zurück. Ich schäme mich ein bisschen für meine überdrehten Reaktionen, ärgere mich aber zugleich darüber, dass Cade mich deswegen auslacht. Ich kenne seine Welt nicht. Jeden Tag entdecke ich etwas Neues. Wie könnte ich je wieder in mein altes Leben zurückkehren, ohne ständig an die Wunder zu denken, die hinter der Barriere auf mich warten? Gefährliche Wunder, ja, aber niemals eintönig wie der durchstrukturierte Alltag in Manhattan.
Ein schriller, sich regelmäßig wiederholender Piepton reißt mich aus meinen Gedanken.
»Verdammt.« Cade schlägt auf das Steuerrad und starrt auf die Lämpchen vor ihm. Ich ziehe nur fragend die Augenbrauen hoch.
»Das Benzin geht schon wieder aus. Wir sind in den letzten Tagen ein bisschen zu viel durch die Gegend gefahren.«
»Benzin?«
Er wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. »Kraftstoff. Die Autos der
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