Glutroter Mond
Zeitpunkt noch lebt. Noch ist nichts verloren.
»Ich kümmere mich um ihn«, sagt Cade. »Ich werde es noch einmal mit ihm probieren. Wenn es tatsächlich nicht funktionieren sollte, werde ich ihn beseitigen. Das nächste Mal, wenn ich
verschwinde
, wie du es nennst, werde ich wieder Nachschub mitbringen. Versprochen. Du musst dir deshalb nicht ins Hemd machen. An drei Tagen ohne Nahrung ist noch kein Acrai gestorben.«
Ich weiß, das Cade jetzt bittersüß lächelt, dazu kenne ich ihn schon gut genug. Er hasst Layton, das ist offensichtlich.
»Na schön. Aber sei dir gewiss: Ich beobachte dich.«
Dann sagt niemand mehr etwas, ich höre das leise Geräusch einer Tür, die ins Schloss fällt. Nur Sekunden später betätigt Cade die Klinke und steckt seinen Kopf zur Badezimmertür herein. Er rümpft die Nase.
»Das riecht ja widerlich hier. Komm wieder herein.«
Ich lösche das Licht im Bad und schließe die Tür, ehe ich mich wieder auf Cades Matratze setze.
»Das war Layton, oder?«
»Ja. Ein widerlicher Kerl. Ich weiß manchmal nicht, ob ich ihn oder Vince mehr verachte. Seit ich dich kenne, widere ich mich sogar selbst an.«
Ich streiche eine schwarze Strähne hinter sein Ohr. Er lässt es geschehen, aber die Berührung erweckt wieder das altbekannte elektrische Gefühl in mir. Er ist unruhig und frustriert, das spüre ich.
»Hat er von Neal gesprochen?«
Cade wirft mir einen Seitenblick zu und seufzt. »Ja, ich denke schon. Anscheinend lebt er jedoch noch, was mich wundert. Für gewöhnlich zögert Layton nicht. Sicherlich hat ihn die Verzweiflung davon abgehalten, weil Neal der einzige Mensch ist, den wir noch haben.«
»Kannst du ihn hierher holen?«
Cades Augen weiten sich, er wendet mir den Kopf zu. »Holly, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Er wird Theater machen und mich vielleicht sogar verraten. Neal hasst mich, zurecht. Wir können hier drinnen kein Treffen arrangieren. Das muss draußen stattfinden, und ich muss sicher sein, dass Neal danach keinen Fuß mehr in unser Quartier setzt.«
Ich spüre einen Stich im Herz. Das heißt zwangsläufig auch für mich, Abschied von Cade zu nehmen. Er wird Neal und mich herausbringen und uns laufen lassen. Wir können nie wieder zurückkommen. Es zerreißt mich innerlich. Am liebsten würde ich Cade bitten, sein Angebot sofort in die Tat umzusetzen. Je eher, desto besser. Aber ich kann nicht Lebwohl zu Cade sagen. Noch nicht. Ich bin so wütend auf mich selbst. Wütend auf meine Gefühle. Ich kann sie nicht länger leugnen.
»Du bist traurig«, sagt Cade und nimmt meine Hand. Seine Haut fühlt sich wärmer an als früher. Ich muss gegen den Impuls ankämpfen, ihm um den Hals zu fallen.
»Ich sehe so viel in deinem Gesicht, was mir früher nie aufgefallen wäre«, fährt er fort. »Ich war immer unfähig gewesen, menschliche Emotionen zu erkennen oder gar nachzufühlen. Es zerreißt mir das Herz, dich gehen zu lassen. Aber ich kann es verstehen. Du gehörst nicht hierher. Du musst zurück nach New York.«
»Dort müsste ich mich genauso verstecken! Ich kann nie wieder einem Obersten unter die Augen treten.« Weshalb bin ich nur so hin und hergerissen? Was erwarte ich von Cade? Dass er mich anfleht, bei ihm zu bleiben? Das ist kindisch. Und allein wegen Neal geht es nicht.
Cade streicht mir mit dem Daumen über die Wangen, fährt die Linie meiner Augenbrauen nach, die Form meiner Ohren, und schließlich berührt er meine Lippen. In seinen Augen liegt mehr Schmerz, als ich es je bei jemand anderem gesehen habe, und das, obwohl Cade bis vor Kurzem noch gar nicht zu fühlen imstande war.
Sein Gesicht nähert sich meinem, ich kann seinen Atem auf meiner Haut spüren. Mein Herzschlag beschleunigt sich, die Haare auf meinen Unterarmen stellen sich auf. Ich fühle mich, als durchflöße Strom meine Adern. Zeitgleich verspüre ich den Drang zu flüchten, aber auch den Wunsch, mich in seine Arme sinken zu lassen.
Dann berühren seine Lippen meine. Vorsichtig, nicht drängend. Ich habe nie zuvor in meinem Leben geküsst, ich habe nur gelegentlich andere Paare dabei beobachtet, wobei ich mich meist jedoch beschämt abwandte. Nie hat mir jemand gezeigt, wie man es macht, und dennoch weiß ich es ganz genau. Es ist so natürlich und selbstverständlich wie das Atmen.
Cades Arme umfassen meine Taille. Sie ruhen dort, schwer und warm. Ich schließe die Augen und lasse mich treiben. Endlose Sekunden scheinen zu vergehen, ich möchte sie festhalten und
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