Gnade
Brille.«
»Bist du noch nicht angezogen?«
»Doch, ich hatte mich angezogen, um frühstücken zu gehen, und dann bin ich in mein Zimmer zurückgekehrt, habe mich ausgezogen und das Nachthemd übergestreift. Ich trage es gern, wenn ich arbeite, es spannt nicht, ist nicht zu warm.«
»Du frierst doch aber nicht«, fuhr er fort, »nur im Nachthemd. Hast du das Fenster geschlossen, damit du dich nicht erkältest?«
»Nein«, sagte sie, fast überrascht über die Frage. »Das Fenster ist offen. Die Sonne scheint. Hier ist es frühlingshaft warm. Nur eine sanfte Brise in den Haaren. Wie ist das Wetter in Oslo?«
»Es regnet«, sagte Johan.
»Typisch«, sagte sie.
Einen Moment lang schwiegen sie beide.
»Wofür hast du dich jetzt entschieden?«, fragte Johan schlieÃlich.
»Was meinst du?«
»Mit deinen Haaren? Offen oder aufgesteckt?«
»Offen, glaube ich.« Sie schwieg einen Augenblick, dann fügte sie hinzu: »Oder vielleicht aufgesteckt. Ich weià es nicht.«
»Ich liebe dich«, sagte Johan.
»Und ich dich«, antwortete sie. »Jetzt müssen wir
Schluss machen, ich muss weiterschreiben.«
Er seufzte.
»Wie machst du das nur, Johan«, rief sie plötzlich aus, »jeden Tag Artikel schreiben? Ich finde das die Hölle.«
»Ich auch«, sagte Johan und lachte. »Halte durch! Du wirst fertig werden! Und heute Abend kannst du feiern.«
Und dann legten sie auf.
Johan blieb den ganzen Tag in Göteborg. Er beobachtete sie, stand hinter einem Baum und wartete darauf, dass sie endlich das Hotel verlieÃ. Es war kurz
vor zwei und es regnete immer noch. Unter dem langen signalroten Regenmantel trug sie einen blauen Pullover, einen engen blauen Rock und grüne Gummistiefel. Ihre Halbschuhe hatte sie aller Wahrscheinlichkeit nach in einer Plastiktüte, die sie in der einen Hand hielt, und der maschinengeschriebene Vortrag lag in der Handtasche, die sie in der anderen Hand trug. Des Weiteren klammerte sie sich an einen groÃen gelben Regenschirm, der fast davonflog. Die hellen Haare trug sie offen.
Er folgte ihr bis zum Konferenzgebäude und sah, wie sie in der Menschenmenge verschwand. Er wollte warten, bis sie mit dem Vortrag fertig war, und versteckte sich erneut hinter einem Baum. Es dauerte Stunden. Es gab bestimmt auch eine ganze Menge mit den Kollegen zu bereden, dachte er, vielleicht mehrere Vorträge. Es hielt wohl nicht nur Mai einen Vortrag? Zum Schluss kam sie mit zwei weiteren Frauen aus dem Konferenzgebäude. Sie liefen dicht nebeneinander wie Freundinnen und lachten laut über den Wind, der sie umzublasen drohte. Genau wie Mai hatte jede der beiden Frauen einen groÃen gelben Regenschirm, und plötzlich wurde ihm klar, dass die Regenschirme ein Geschenk der Organisatoren der Konferenz waren, denn auf allen Regenschirmen stand mit schwarzer Schrift: »Skandinavische Kinderärztekonferenz 1985.«
Am Abend aà Mai zusammen mit ihren Kollegen im
Restaurant des Hotels. Sie sah Johan nicht, obwohl er sich sogar in die Tür stellte und suchend im Restaurant umschaute, bis er ihren Tisch gefunden hatte. Sie sah ihn nicht. Es kam ihr nicht in den Sinn, dass er ihr gefolgt sein könnte, dass er überhaupt hier sein könnte, in Göteborg, dass er gekommen war. Sie unterhielt sich mit denselben zwei Frauen, mit denen sie vorher zusammen gewesen war, und alles deutete darauf hin, dass sie sich amüsierte.
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Wenn jemandes Ehefrau zu einer Konferenz fährt und hinsichtlich der Umstände lügt, liegt allem Anschein nach ein Liebesverhältnis vor. Die Frau hat sich in einen anderen Mann verliebt. Aber wenn Johans Frau zu einem Seminar fährt und hinsichtlich der Umstände lügt, geht es nicht um einen anderen Mann. Es geht ums Wetter. Johans Frau sagt zu ihm, dass die Sonne scheint und dass sie bei offenem Fenster schreibt, um die frühlingshafte Brise im Haar zu spüren.
Johan konnte sich nicht erklären, weshalb sie log. Es konnte nicht sein, um sich oder Johan zu schonen, die Ehe zu schonen? Vor was denn zu schonen, in dem Fall?
Ihm kam der Gedanke, dass die Lüge hinsichtlich des Wetters nur eine Vorwarnung für eine gröÃere Lüge, eine gefährlichere Lüge sein könnte. Im gleichen Augenblick, in dem Mai sagte, dass die Sonne
scheine und sie vor offenem Fenster schreibe, um die frühlingshafte Brise in ihren Haaren
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