Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
ungefähr genauso groß, hatte sich aber völlig anders entwickelt. Jones warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Er könnte nach Chester fahren und Robin suchen. Paula hatte ihn darum gebeten. Aber nun? Eigentlich hatte er keine Auftraggeberin mehr. Er war kein Polizist, und genau genommen auch kein Privatdetektiv. Es würde ihn Geld kosten, Paula Carr zu helfen – Benzinkosten, dazu das Abendessen, das er Kellerman jetzt schuldig war. Und Kellerman war ein guter Esser. Maggie wäre nicht einverstanden.
»Soll ich sie ebenfalls im Blick behalten?«, fragte Kellerman.
»Ja, das wäre gut.«
»Ich schreibe dir eine SMS , sobald sich eine der beiden rührt.«
Sie vereinbarten, sich in der folgenden Woche zum Abendessen zu treffen. Jones beendete das Gespräch und legte den Gang ein. Dass er sich auf dem Weg nach Chester befand, bemerkte er erst auf dem Highway. Warum nicht, dachte er. Er hatte drei vermisste Frauen, aber nur diese eine Spur. Was sollte er sonst tun – nach Hause fahren, über seine Zukunft, seine Ehe nachdenken, an sich »arbeiten«? Nein, auf keinen Fall. Allein der Gedanke nahm ihm die Luft zum Atmen.
Während der Fahrt fragte er sich, welche Schritte vonnöten wären, um eine eigene Detektei zu eröffnen. Und ob es angeraten wäre, wieder eine Schusswaffe zu tragen.
NEUNUNDZWANZIG
I m Lehrerzimmer ging das Gerücht um, die Polizei habe in der Nähe der Kapelle Menschenknochen gefunden, die angeblich von der vermissten Marla Holt stammten. Die Nachricht streifte so sanft wie ein Flüstern Henry Ivys Ohr, dass man sie problemlos überhören konnte. Aber als ihn im Laufe des Tages mehrere Leute fragten, ob er »es schon gehört« habe, nahm der Druck zu, bis Henry schließlich das Gefühl hatte, unter Betonblöcken zu liegen. Am späten Nachmittag erdrückte das Gewicht ihn fast. War sie dort im Wald, hatte sie all die Jahre dort gelegen, während er und alle anderen ihr das Schlimmste zugetraut hatten? Lag sie keine zwei Kilometer von seinem Arbeitsplatz entfernt in einem flachen Grab, um einsam zu verrotten? Wäre sie heute noch am Leben, wenn er damals ihrem Wunsch nachgekommen und bei ihr geblieben wäre?
Er erledigte seine Arbeit wie in Trance, hielt morgens eine kurze Ansprache, überflog die Anwesenheitslisten, rief die üblichen Verdächtigen zur Ordnung, sprach mit den Lehrern. Und die ganze Zeit hatte er dieses Brummen im Kopf. Am Abend war er mit Bethany Graves verabredet. Es war, als würde sein Versuch, glücklich zu werden, prompt bestraft. Irgendeine kosmische Macht gönnte ihm das Glück nicht.
»Ich kann nicht ausgehen«, hatte Bethany gesagt, »nicht bei Willows momentaner Verfassung, sie ist so unglücklich.«
»Ich verstehe«, hatte er gesagt und versucht, nicht enttäuscht zu klingen. Wahrscheinlich suchte sie nur nach einer Möglichkeit, ihm möglichst schonend einen Korb zu geben.
»Aber Sie können mich gern zu Hause besuchen«, hatte sie gesagt. »Zum Abendessen vielleicht? Morgen?«
Henry schöpfte neue Hoffnung, sein Herz machte einen Satz. »Ich möchte nicht … aufdringlich sein.«
»Nein«, hatte sie mit einem Lächeln in der Stimme gesagt. »Ich finde das kein bisschen aufdringlich. Ich freue mich sogar.«
Am Morgen war er fröhlich und beschwingt aufgewacht. Mit Elan brachte er seinen Frühsport hinter sich, verschlang ein ordentliches Frühstück aus Eiweiß-Omelett und frischem Smoothie, und dann fuhr er früher als gewöhnlich zur Schule, um endlich die fälligen Evaluationen zu schreiben. Aber seit halb neun, seit sich das Lehrerzimmer füllte und alle tuschelten, hatte sich ein grauer Trauerflor über Henrys Tag gelegt.
Nie hatte er irgendjemandem gestanden, dass er in sie verliebt gewesen war – auf seine Weise. Er hatte sie nicht so geliebt wie Maggie Cooper. Bei Maggie hatte er zeitweise die Hoffnung gehegt, sie möge ihn eines Tages auch lieben. Als Teenager hatte er gedacht, ihre Freundschaft würde sich eines Tages weiterentwickeln, auf eine Ehe und gemeinsame Kinder hinauslaufen. Dazu war es nie gekommen. Die Freundschaft hingegen hatte gehalten, und Henry hatte den Trostpreis dankbar angenommen.
Marla Holt hatte er geliebt, wie man einen Filmstar liebt. Er hatte nicht damit gerechnet, jemals bei ihr zu landen. Sie war älter als er, wirkte erfahren und weltgewandt. Sie war so schön, dass er manchmal nicht glauben konnte, dass sie echt war. Ihre Makel – die Lachfältchen um die Augen, der Schönheitsfleck auf der rechten Wange, den sie
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