Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
ihre »Hexenwarze« nannte – ließen sie um so schöner erscheinen. Wenn sie mit ihm sprach, war er wie hypnotisiert … von den Bewegungen ihrer Lippen, den gestikulierenden Händen, ihrem Wimpernschlag.
Am Abend ihres Verschwindens waren sie zum Joggen verabredet gewesen. Er hatte sie angerufen und nach der genauen Uhrzeit gefragt, aber sie sagte ihm ab. Michael sei bei einem Freund, aber sie habe immer noch Cara zu versorgen. Mack komme erst spät von der Arbeit zurück. Aber Henry könne trotzdem gern vorbeikommen, zum Reden. Denn das taten sie beim Laufen; sie unterhielten sich. Über alles Mögliche.
Zunächst hatte er gezögert, weil es ihm unpassend vorkam, sie zu Hause zu besuchen. Aber sie hatte darauf bestanden: Bitte, Henry, ich freue mich immer so auf die Zeit mit dir . Er hatte eingewilligt und freute sich, sie zu sehen, obwohl er wusste, er würde sie niemals berühren, denn sie stand weit, weit über ihm. Sein Bauchgefühl warnte ihn; das Ganze könnte schieflaufen, einen falschen Eindruck erwecken. Henry ging trotzdem hin, weil sie ihn gebeten und so traurig geklungen hatte.
Er hatte Jones im Wald davon erzählen wollen, als sie wahrscheinlich nicht weit von der Stelle entfernt gestanden hatten, wo die Knochen gefunden worden waren. Henry hatte sagen wollen: Jones, ich war damals bei ihr. Ich hielt sie im Arm. Sie war so unglücklich mit Mack, mit sich selbst, mit ihrem ganzen Leben. Sie vertraute mir an, sie habe Fehler gemacht und sei ihrem Mann in gewisser Hinsicht untreu gewesen. Ich habe sie in den Arm genommen. Ich habe mich nach ihr verzehrt. Ich hätte sie haben können. Mir war egal, dass es einen anderen gab. Sie war dabei, sich mir zu öffnen wie eine Blüte.
Henry hatte Jones schildern wollen, dass es ihn damals übermenschliche Anstrengung gekostet hatte, ihr zu widerstehen, sie nicht zu küssen. Sein ganzer Körper hatte vor Verlangen geschmerzt, als sie sich an seiner Schulter ausweinte. Wie weit wären sie gegangen, wenn an jenem Abend nicht plötzlich Michael aufgetaucht wäre, wenn er sie nicht in einer Umarmung im halbdunklen Wohnzimmer erwischt hätte? Hätte er ihr widerstehen können? Hätte er sich unter Kontrolle gehabt? Er wusste, dass die anderen ihn für eine Art Heiligen hielten, der nicht von denselben Trieben gequält wurde wie andere Männer. Henry ist ja so lieb. Henry ist ein Schatz. Henry ist ein guter Freund . Aber auch er hatte Bedürfnisse, Wünsche, die er ignorierte und unterdrückte. So lange schon war er allein.
»Mom?«
Das Wort fuhr ihnen in die Glieder, ließ sie voreinander zurückschrecken, als habe ein Stromschlag sie getroffen.
»Michael«, sagte sie. Es klang wie ein Keuchen, erschreckt und verängstigt. »Was tust du hier?«
»Mom«, sagte der Junge, »was ist hier los?«
Der Moment war seltsam, wie aufgeladen.
»Es ist nichts, mein Liebling«, flüsterte Marla, »Henry ist nur ein Freund.«
Henry ist nur ein Freund . Die Worte schmerzten wie ein Messerstich, auch wenn er wusste, dass es die Wahrheit war. So sahen die Frauen ihn. Er war nur ein Freund. Er hatte vor Verlangen gebrannt, sie hingegen hatte nur einen Tröster gesucht.
»Tut mir leid«, sagte er. »Es tut mir leid.«
Er hatte sich mit schamrotem Gesicht eilig an dem Jungen vorbeigeschoben, der damals schon größer und kräftiger war als er. Der Junge keuchte wie ein Tier. Er war dreizehn, höchstens vierzehn Jahre alt. Er besuchte noch die Mittelschule, war noch nicht an der Hollows High.
»Nicht, Henry.« Ihre Worte erreichten ihn an der Haustür. Er rannte los. Er war in Laufkleidung hergekommen, weil er gar nicht so lange hatte bleiben wollen, weil er nicht wollte, dass die Nachbarn ihn in normaler Kleidung zu ihr gehen sahen. Er rannte und rannte, riss ein paar verschwitzte Kilometer durch das Viertel ab, bevor er auf die Straße einbog, die zu den ländlichen Gegenden von The Hollows führte, vorbei an Weiden und Molkereien. Später, als die Zeugen befragt wurden, gaben viele Leute an, ihn wie an jedem Abend joggen gesehen zu haben. Er sei allein gelaufen, ohne Marla Holt. Als er nach Hause kam, brannte bei den Holts kein Licht. Macks Auto stand in der Einfahrt. Henry sah Claudia Miller, die wie so oft am Schlafzimmerfenster stand. Schwarz hob sich ihre Silhouette vom hell erleuchteten Zimmer dahinter ab.
Es klingelte, und Henry wurde aus seinen Gedanken gerissen. Sollte er Bethany Graves absagen? Mit all diesen Sorgen und Gedanken würde er heute keinen guten
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