Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
Normalerweise wurde sie von den Jungen ignoriert; sie sah zu seltsam aus mit dem roten Haar, den dürren Armen. Sie war keine Schönheit mit langen Wimpern und großen Brüsten. Sie war einfach nur Willow. Bestimmt machte er sich nur über sie lustig. Bestimmt war er jetzt bei Jolie und lästerte über sie.
»Wo bleibt dein Freund?«, fragte ihre Mom, die im Türrahmen stand. Sie trug eine mit Mehl bestäubte Schürze und hielt ein Geschirrtuch in der Hand. Willows Mutter war schön, alle sagten das. Willow wusste, dass sie ihrem Vater ähnlich sah, der ihrer Mutter in Sachen Attraktivität ehrlich gesagt nicht das Wasser hatte reichen können. Auf allen Fotos sah er dünn und schlaksig aus. Sie fragte sich, was Bethany an ihm gefunden hatte. Er war ein wunderbarer Mensch. Er war anders als alle Männer, die ich kannte. Also war er ein Freak! Vielleicht war Willow aus diesem Grund so eine Außenseiterin. Vielleicht war es erblich.
Sie dachte kurz daran zu lügen. Sie könnte sagen, dass Cole angerufen und wegen der vielen Hausaufgaben abgesagt hatte oder dass er plötzlich zur Arbeit musste. Weil er rechtzeitig abgesagt hatte, würde er in einem besseren Licht erscheinen als der unverantwortliche Richard, der seine Versprechen brach.
»Weiß ich nicht«, sagte Willow. Im Fernseher lief eine alberne Zeichentrickserie. »Ich glaube, er hat mich versetzt.«
Sie versuchte, nicht zu weinen, aber dann kullerte ihr doch eine Träne über die Wange. Willow blinzelte.
»Oh, Willow!«, sagte ihre Mom, setzte sich neben sie und umarmte sie. »Bestimmt ist ihm etwas dazwischengekommen.«
»Er hätte anrufen können«, sagte Willow.
»Womöglich hatte er eine Autopanne. Im Zweifel für den Angeklagten! Lerne ihn erst einmal kennen.«
»Ja«, sagte Willow, aber schon spürte sie, wie jenes dunkle, giftige, enttäuschte Loch in ihrem Herzen wieder aufriss.
»Ich weiß, wie schwierig es für mich in deinem Alter war. Ich habe das nicht vergessen, Willow.«
»Wann wird es besser?«
Bethany kicherte.
»Lass es mich so sagen: Es wird anders .«
»Na toll.«
Ihre Mutter griff zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Sie saßen auf dem Sofa und lauschten dem Regen, der an die Fensterscheiben klopfte. Bethany massierte ihrer Tochter die Schultern. Willow schloss die Augen. Im Wohnzimmer war es warm, das Sofa war weich.
Sie musste eingenickt sein, denn als sie wieder zu sich kam, lag sie allein auf dem Sofa. Bethany telefonierte. Ihre Stimme klang seltsam, weich und fröhlich.
»Nein, ich finde das kein bisschen aufdringlich«, sagte sie. »Ich freue mich sogar.«
Bethany fing an zu lachen, sie klang so froh und unbeschwert, dass Willow wütend wurde. Wie kann sie lachen, wenn es mir so schlecht geht?
»Klingt gut«, sagte Bethany. »Okay.«
Als Willow in die Küche kam, sah sie, dass der Tisch für drei gedeckt war. Bethany hatte Pizza gemacht. Während ihre Mutter das Telefonat beendete, räumte Willow den dritten Teller weg. Sie wollte beim Essen nicht auch noch daran erinnert werden, dass man sie versetzt hatte.
»Wer war das?«, fragte sie, nachdem Bethany aufgelegt hatte.
Ihre Mutter benutzte einen Pizzaroller, um den Boden zu zerschneiden. Die Küche versank im Chaos, überall Mehl und Tomatensauce. Bethany war eine schwungvolle Köchin.
»Ich dachte, du schläfst«, sagte sie, ohne ihre Tochter anzusehen. Sie grinste breit.
»Wer war das?«, fragte Willow noch einmal. »Doch nicht etwa Richard? Ich dachte, er käme erst nächste Woche.«
»Nein, nicht Richard«, antwortete Bethany, »ich weiß gar nicht, ob er überhaupt noch vorhat, uns am Wochenende zu besuchen. Möchtest du das? Du hast seit Monaten nicht mit ihm telefoniert.«
»Es ist mir total egal«, sagte Willow. Sie holte die Salatschüssel und ließ sich auf ihren Platz plumpsen.
»Tja, ich habe ihm gesagt, er könne uns gern besuchen«, sagte Bethany. »Wir machen uns ein schönes Wochenende, so oder so. Wir sollten uns einmal diese alte Obstmosterei ansehen. Soll wirklich toll sein.«
»Oh, ja«, sagte Willow, »klingt echt aufregend.«
Dann unterhielten sie sich über die Schule – über den Unterricht, über Mr. Vance, über den Theaterkurs, den Willow im nächsten Jahr besuchen wollte. Nach dem Essen half Bethany ihrer Tochter bei dem Aufsatz über Ein anderer Frieden . »Hat Gene seinen Freund Fin absichtlich vom Baum gestoßen? Warum bzw. warum nicht? Falls ja, was sagt das über die Freundschaft zu Fin aus?« Bethany war von
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