Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
unmögliche Einrichtung der Natur. Der Verstand war vernebelt von Hormonen und Schlafentzug, man wurde von einer endlosen Bedürfniskette auf Trab gehalten und kam keine Minute dazu, an sich selbst zu denken. In der Mutterschaft löste man sich vollkommen auf und vergaß, dass man früher einmal Sportlerin und Musterstudentin gewesen war, dass man ehrgeizige Pläne gehabt hatte und die Welt verändern wollte. Dass man früher ein Buch schreiben wollte. Und obwohl das Muttersein all diese Zustände von der Tafel des Lebens wischte wie ein Zauberschwamm, stand man nicht mit leeren Händen da – man bekam diese verrückte, selige, unendliche Liebe geschenkt, die einen tief berührte und völlig umkrempelte. Dem verwirrten Muttergehirn und all jenen, die glücklich verheiratet sind und ein schönes Zuhause haben, erscheint das Tauschgeschäft mehr als fair. Die Kinder bleiben nicht ewig klein. Man kann später noch arbeiten gehen, wenn sie in der Schule sind. Was könnte wichtiger und befriedigender sein, als eigene Kinder großzuziehen?
Aber das war natürlich nicht das Problem. Paula hatte nicht mehr vor, die Welt zu verändern. Aus heutiger Sicht kam ihr ihr Studium wie Geld- und Zeitverschwendung vor; sie hatte nur studiert, um gelobt und bewundert zu werden. Kevin hatte sie bei einem ihrer ersten Dates dazu überredet. Da er außerdem ihr Chef war, war ihr der Gedanke vernünftig erschienen. Er deutete an, sie könne eines Tages sogar als Partnerin in die Unternehmensberatung einsteigen, die er zusammen mit einigen Studienfreunden gegründet hatte. Damals liefen die Geschäfte glänzend. Inzwischen hatten die Geschäftspartner Insolvenz angemeldet, und die Großkunden vergaben ihre Aufträge lieber nach Indien. Die Firma kämpfte ums Überleben. Seit Claires Geburt hatte Paula keinen Versuch mehr gestartet, arbeiten gehen zu wollen, selbst nicht, als in der Personalabteilung die ideale Stelle frei geworden war. Hin und wieder, wenn die Kleine schlief, erledigte sie Kevins Papierkram oder telefonierte Gläubigern hinterher. Nach und nach waren alle Angestellten entlassen worden, und nur die Firmengründer blieben übrig. Aber Paula kümmerte sich nicht um die Firma oder um ihre stockende Karriere. Das waren Luxusprobleme. Viel größere Sorgen bereitete ihr Kevin. Etwas stimmte nicht mit ihm.
Wann hatte es angefangen? Das fragte sie sich oft. Sie suchte nach einem Auslöser, nach dem Grund. Aber wenn sie ehrlich war, hatte es erste Anzeichen schon lange vor der Hochzeit gegeben. Sie waren subtil gewesen, und im ersten Liebesrausch hatte sie sie ignoriert, wenigstens redete sich Paula das ein. Sein Zwang, alles zu planen – am Anfang ihre Treffen und Urlaube. War doch romantisch, oder? Bis sie irgendwann merkte, dass sie in nichts ein Mitspracherecht hatte, nicht einmal, wenn es darum ging, einen Kinofilm auszusuchen. Irgendwann hatte er angefangen, ihr Kleider zu kaufen – atemberaubend schöne, teure Kleider. Sie fand das nett, bis sie merkte, dass er ihr ihre alten Kleider verleiden wollte. Er wollte ihr verbieten, Brot zu essen, damit sie statt in Kleidergröße 38 in 36 passte. Du bist wunderschön. Ich liebe dich. Ich möchte dich nur darin unterstützen, perfekt zu sein. Als ihre Freundinnen sich über sein Verhalten empörten, versuchte Paula sie zu beschwichtigen. Was sei denn so schlimm daran, am Hochzeitstag Größe 36 zu tragen? Außerdem, wer braucht schon Brot?
Irgendwann waren ihm ihre Freundinnen nicht mehr gut genug. Wenn sie ihn überreden konnte, zusammen mit ihnen auszugehen, betrank er sich und gab die übelsten Kommentare von sich. Katie, ich fände dich ganz hübsch, wenn du nicht übergewichtig wärst. Hast du mal dran gedacht, ins Fitnessstudio zu gehen? … Du solltest stolz auf deine Karriere sein, Judy. Zu schade nur, dass eine andere deine Kinder großzieht! Versuchte sie, sich allein mit ihren Freundinnen zu treffen, gab es einen Riesenkrach, sobald sie wieder zu Hause war. Ihre Freundschaften fingen zu bröckeln an. Ihre Familie war auf einmal ein Haufen von Asozialen, die es zu meiden galt. Um Gottes Willen, dein Cousin sitzt im Gefängnis! Willst du, dass deine Kinder so aufwachsen?
Aber richtig schlimm wurde es erst, nachdem sie eine Weile verheiratet waren, die von ihm geforderten zwei Kinder hatten (zwei war normal) und Paula sich zur Sklavin des Haushaltes und der über alles geliebten Kinder gemacht hatte. Erst nachdem die Falle zugeschnappt war, wurde sein Verhalten
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