Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
wurden vor der Wache abgelegt, Mütter schlichen sich nach der Entbindung aus dem Krankenhaus, einmal hatten sie sogar ein Neugeborenes in einem offenen Schließfach am Busbahnhof gefunden. Wahrscheinlich hätte Abigail ihn auch ausgesetzt, wenn ihre Angst vor dem Alleinsein nicht so groß gewesen wäre und sie gewusst hätte, wohin. Nicht jede Frau war fürs Muttersein geschaffen; er wunderte sich darüber, dass die meisten Leute das nicht verstanden.
»Was wollen Sie von mir, Mr. Cooper?«
»Das habe ich Ihnen gesagt.«
»Aber das ist nicht die ganze Wahrheit.« Er bewunderte ihr Gespür.
»Ganz ehrlich? Ich frage mich, auf welche Weise Sie die Leute abzocken.«
Sie entgegnete nichts, blickte ihm nur ruhig in die Augen. Wie weit müsste er gehen, um sie zu verärgern? Maggie warf ihm immer vor, er wolle die Leute provozieren. Eigentlich stimmte das nicht, zumindest nicht im Allgemeinen. Er konnte nur diese Falschheit nicht leiden. Ärger war ein authentisches Gefühl. Manchmal wollte er nur einen Menschen aus der Fassung bringen, um ihn besser kennenzulernen.
»Gestern kamen Sie ganz überraschend zu mir, um mir unter anderem zu sagen, mich erwarte ein düsteres Schicksal. Außerdem haben Sie gesagt, ich hätte einen gewissen Ruf und die Leute kämen wegen verschiedenster Probleme zu mir. Noch am selben Tag bittet mich die Polizei von The Hollows, mich mit einem längst abgeschlossenen Fall zu beschäftigen – und dann stellt sich heraus, dass Sie und Ray Muldune damit zu tun haben. Ich glaube einfach nicht an solche Zufälle.«
Sie lächelte ihn an, und ihre Freundlichkeit war echt. Ihr Gesicht strahlte. Ihm fiel auf, dass sie früher einmal vielleicht sehr hübsch gewesen war mit der zierlichen Figur und den schwarzen Augen, vielleicht hatte sie einer Elfe geähnelt. In einem früheren Leben war sie vielleicht ein fröhlicher, glücklicher Mensch gewesen. Aber dann hatte ein Ereignis an ihren Kräften gezehrt und sie innerlich ausgehöhlt.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich Sie einmal nett finden könnte, Mr. Cooper«, sagte Eloise.
Er lächelte unwillkürlich zurück. Ihm ging es umgekehrt genauso. Er fand sie nett und dann wieder nicht, sie war interessant und ein bisschen verschroben. Er konnte sich keinen Reim auf sie machen. Aber all das behielt er für sich.
Sie setzte sich wieder zu ihm an den Küchentisch. »Das ist keine Abzocke. Ich sage, was ich sehe. Die Leute können mir glauben oder es bleiben lassen. Ich kann verstehen, dass es schwierig ist, das Unbegreifliche zu akzeptieren. Ich habe selbst ganze zehn Jahre gebraucht, um zu akzeptieren, was mit mir passiert ist.«
Sie zeigte auf die schäbige Kücheneinrichtung, die veralteten Geräte und die welligen Tapeten. »Wie Sie sehen können, lebe ich nicht gerade auf großem Fuß.«
»Geld ist nicht alles.«
Eloise seufzte und rieb sich mit den schlanken Fingern die Schläfen.
»Ich glaube, Sie sollten jetzt besser gehen. Ich soll Ihnen beweisen, dass ich diejenige bin, für die ich mich ausgebe. Oder Sie wollen sich selbst beweisen, dass ich eine Betrügerin bin, damit Sie sich wegen meiner Vision keine Sorgen mehr machen müssen. Nichts davon wird heute passieren. Ich werde Ray sagen, dass Sie ihn aufsuchen werden. Wahrscheinlich kann er Ihnen besser weiterhelfen als ich.«
Sie stand auf und ging durch den Flur zur Haustür. Jones folgte ihr langsam. Er betrachtete die gerahmten Fotos an den Wänden, zwei kleine Mädchen, die langsam größer wurden – in der Badewanne, Ballettaufführungen, Reitschule, Abschlussball. Ein Mädchen war dunkelhaarig, das andere blond. Eines sah Eloise ähnlich. Er entdeckte auch Fotos von der jungen Eloise. Jones konnte nicht anders, als zu glotzen. Die Frau auf den Fotos – lächelnd, energetisch, mit blitzenden Augen – hatte mit der Frau, die vor ihm stand, so wenig gemein, dass er sie in einem anderen Zusammenhang nicht wiedererkannt hätte. Ein Schnappschuss von der Hochzeit: Eloise in einem schmalen, mit Spitze besetzten Kleid. Sie lächelte breit und hatte Tränen in den Augen. Sie hatte sich bei ihrem glücklichen Ehemann untergehakt und hielt einen Rosenstrauß in der Hand. Was immer zwischen jenem Augenblick und heute passiert war, hatte ihr den Lebenswillen geraubt. Es war nicht nur das Alter. Die Frau, die an der Tür auf ihn wartete, war im Vergleich ein Gespenst. Jones musste ein spontanes Gefühl der Trauer unterdrücken.
Er ging weiter. Sie hielt ihm die Tür auf, ohne ihn
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