Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
Kevin die meiste Zeit abwesend war und sich kaum für die Kinder interessierte, besonders für das Baby nicht. Paula fragte sich, warum ausgerechnet der Elternteil, der sich am wenigsten einbrachte, am gefragtesten war.
»Er muss am Wochenende arbeiten«, erklärte sie und zwang sich, möglichst unbeschwert zu klingen. »Aber Pop-Pop ist da und wird mit dir spielen.«
»Warum muss Dad immer arbeiten?« Cammy starrte aus dem Fenster. Wenn er so wie jetzt den Tränen nahe war und die Stirn in Falten legte, sah er aus wie sein Vater.
Paula fuhr zwei Stunden bis in ihre Heimatstadt und übernachtete zum ersten Mal seit Jahren wieder bei ihren Eltern. Kevin konnte Paulas Familie nicht leiden, deswegen waren Besuche kurz und selten. Normalerweise traf man sich irgendwo auf halber Strecke zum Mittagessen. Kevin mochte es nicht, wenn sie zu viel Zeit mit ihren Eltern verbrachte, es machte ihn sogar wütend, wenn sie zu viel mit ihrer Mutter telefonierte.
Und sobald sie für eine Weile wieder daheim war und Kevin nicht in der Nähe, begriff Paula, warum. In der Gegenwart ihrer Eltern erinnerte sich Paula daran, wie es war, sich geliebt und geachtet zu fühlen, wie es war, nicht wie unter einer Lupe zu leben und ständig beobachtet und kritisiert zu werden. Sie erfuhr Zärtlichkeit und Innigkeit und erinnerte sich daran, wie es war, Paula zu sein. Sie breitete sich aus und streckte die Glieder, als sei sie aus einer engen Kiste gestiegen. Endlich bekam sie wieder Luft.
Bei Janies Beerdigung hatte sie geweint, sie konnte ihre Trauer nicht unterdrücken, obwohl Cameron seinen Kopf auf ihren Schoß legte und Claire auf ihrem Arm schlief. Sie schienen Paulas Kummer hinzunehmen, und fast kam es Paula so vor, als verstünden die Kinder, dass es normal und wichtig war, den Tod einer geliebten Angehörigen zu betrauern. Sie heulten und jammerten nicht. Cameron streichelte Paulas Bein, und Claire döste, rechts und links saßen die Großeltern. Zum ersten Mal seit Jahren war Paula ehrlich zu sich selbst und weinte hemmungslos darüber, dass ihre Tante so gelitten hatte und dass ihr ihr eigenes Leben so entglitten war. Sie fühlte sich sicher.
Nachdem die Kinder im Bett lagen und ihr Vater sich vor dem Fernseher niedergelassen hatte, erzählte ihre Mutter ihr von dem Geld.
»Janie wollte, dass du und die Kinder alles bekommen, was sie besaß. Es ist nicht wenig, mehr als hunderttausend Dollar. Aber sie wollte nicht, dass Kevin etwas von dem Geld erfährt. Sie hat sich große Sorgen um dich gemacht, Paula. So wie ich.«
Sie wollte ihrer Mutter weismachen, dass alles in bester Ordnung sei, dass sie sich keine Gedanken zu machen brauche, dass Kevin manchmal schwierig sei, Paula aber gut behandle. Doch ihre Stimme versagte. Sie konnte nicht mehr lügen. Trotzdem konnte sie ihrer Mutter nicht die ganze Wahrheit beichten. Sie wollte ihr keine Angst einjagen. Also sagte sie, dass sie sehr unglücklich sei und nicht wisse, was sie tun solle, aber das Geld werde ihr helfen, eine Entscheidung zu treffen. Sie erzählte ihrer Mutter von ihrem alten Konto, das noch unter ihrem Mädchennamen lief, und versicherte ihr, dass Kevin nichts davon erfahren würde.
»Heutzutage muss niemand mehr unglücklich sein, Paula«, sagte ihre Mutter leise und starrte auf die Tischplatte. So alt, traurig und müde hatte Paula sie noch nie gesehen.
»Mom, was soll das heißen?«
»Dass du ein Recht darauf hast, glücklich zu sein. Und falls dich jemand unglücklich macht, hast du das Recht zu gehen. Der Anspruch, es in einer unglücklichen Ehe auszuhalten, ist doch total überholt. Das Leben ist kurz.«
Paula war überrascht; sie hätte gedacht, ihre Mutter würde ihr so etwas wie eine Paartherapie vorschlagen und sie bitten, es im Interesse der Kinder noch einmal mit Kevin zu versuchen.
»Aber du und Dad, ihr seid doch glücklich, oder?«, fragte sie. Sie hatte immer gedacht, ihre Eltern hätten Glück gehabt und führten eine gute Ehe. Sie wollte unbedingt hören, dass sie sich wenigstens, was ihre Eltern betraf, nichts vorgemacht hatte. »Ihr seid glücklich, oder?«
Ihre Mutter tätschelte Paulas Hand.
»Mehr oder weniger, Paula.«
Mehr oder weniger.
Paula hörte Claire über das Babyfon brabbeln. Sie hielt den Atem an und wartete auf den Schrei, der das Ende der Schlafenszeit verriet. Aber dann seufzte die Kleine nur auf und atmete in einem ruhigen Schlafrhythmus weiter. Paula ließ die Schultern hängen. Das Mutterdasein war eine seltsame und
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