Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
Gedanken schon in der Schule war. Die Mädchen saßen schon im Auto. Emily trug Kopfhörer, Amanda steckte die Nase in ein Buch.
Eloise erinnerte sich noch genau an jenen Morgen. Die Worte hingen in der Luft, immer noch kühl, aber mit einem Hauch von Wärme, die den nahenden Frühling ankündigte. Sie erinnerte sich daran, wie er sich noch einmal lächelnd zu ihr umdrehte, so als fürchte er, sie könnte seine knappe Antwort unhöflich finden, aber sie kannte ihn besser.
»Danke, Liebling«, sagte er, »ja, ich hab’s dabei.«
»Gut.«
Alfie. Alle anderen nannten ihn Al, alle außer Eloise und seiner Mutter Ruth. Sie nannten ihn Alfie und dachten an den schüchternen, unsicheren Jungen von damals, der zu allen nett war und von den coolen Jungs dennoch nie gehänselt wurde, denn irgendwie war er etwas Besonderes, nicht wahr? Seine Augen hinter der Nickelbrille hatten etwas Entschlossenes. Seine Mitschüler baten ihn um Hilfe bei den Algebra-Hausaufgaben.
An jenem Morgen sollten die drei zusammen zur Schule fahren, ihr Mann und ihre beiden Töchter. Aber dann …
»Oh nein! Ich brauche das Auto«, rief sie.
»Was?«, sagte er. »Wozu?«
»Ich habe am Vormittag einen Arzttermin. Verdammt! Wartet kurz, ich beeile mich.«
Sie hatten nur ein Auto. Er arbeitete eine Viertelstunde entfernt. Wenn sie das Auto brauchte, fuhr sie ihn zur Arbeit, brachte die Kinder zur Schule und sammelte am Nachmittag alle wieder ein. Es kam mehrfach pro Woche vor. Eloise brauchte den Wagen, um einzukaufen und Dinge zu erledigen. Oder zum Arzt zu fahren.
»Beeil dich, Eloise. Ich muss vor Unterrichtsbeginn noch Klausuren korrigieren.«
Zehn Minuten, die ihr Leben veränderten. Sie war versucht zu sagen: zerstörten, beendeten, ruinierten, auslöschten … etwas in der Art. Aber nein, so war es nicht gewesen. Alfies Leben wurde ausgelöscht, und das von Emily. Ihr lieber, geliebter Ehemann. Ihr hübsches, lustiges, gescheites, quirliges kleines Mädchen, das immer gelächelt hatte, selbst wenn es traurig war. Eloise blieb mit Amanda zurück, ihrer ernsten, liebevollen, introvertierten, hochbegabten und einfallsreichen Jüngsten. Ausgerechnet die zwei, die am wenigsten dafür geschaffen waren, wieder auf die Beine zu kommen und weiterzuleben, sahen sich vor genau diese Aufgabe gestellt. Die zwei, die den Verstorbenen am liebsten in den Tod gefolgt wären, waren zum Weiterleben verdammt.
Eloise jammerte, Alfie schüttelte Probleme mit einem Lachen ab. Emily tobte sich aus und schlief wie ein Stein, Amanda machte sich Sorgen, lag abends lange wach und schlich ins Schlafzimmer der Eltern, um neben ihrem Vater ins Bett zu schlüpfen. Es hätte nicht sein dürfen, dass ausgerechnet diese beiden am Leben blieben, aber so war es nun einmal. Nach dem Unfall verblasste die ganze Welt und wurde grau. Eloise wusste nicht, wie sie dem Himmel seine Farbe zurückgeben könnte, nicht sich selbst und nicht einmal Amanda zuliebe.
Eloise lag sechs Wochen lang im Koma, ihr Mann und ihre Tochter starben und wurden beerdigt, ohne dass sie dabei sein konnte. Amanda, die von allen am leichtesten verletzt worden war, wurde von ihrer Großmutter Ruth gepflegt. Eloise fühlte einen starken Selbsthass, wenn sie an jene sechs Wochen dachte. Wie hatte sie einfach nur schlafen können, während Emily und Alfie im Sterben lagen? Wie hatte sie Amanda mit ihrem Kummer und ihrer Todesangst im Stich lassen können? Wie konnte sie nur! Sie hatte ihre Mutterpflichten auf das Unverzeihlichste vernachlässigt.
Wenige Wochen später stellten sich die ersten Visionen ein. Amanda ging wieder zur Schule und schlug sich eher schlecht als recht. Eloise fing an, in der Nachbarschaft als Putzhilfe und Babysitter zu arbeiten. Anfangs stellten die Leute sie aus reinem Mitleid ein, das wusste Eloise. Aber dann erarbeitete sie sich einen Ruf; sie konnte gut mit Kindern umgehen und war eine ausgezeichnete Haushälterin. Sie und Amanda hatten ein gutes Auskommen, sie hatten Alfies Lebensversicherung, seine Rente und etwas Geld, das die Familie vor dem Unfall angespart hatte. Eloise legte großen Wert darauf, immer vor Amanda zu Hause zu sein, das Abendessen fertig zu haben und alle Lichter im Haus einzuschalten. Es war das Mindeste, was sie für ihre Tochter tun konnte. Sie wusste, es war längst nicht genug.
Eines Nachmittags, sie war zu Hause und wartete auf den Schulbus, mit dem Amanda kommen würde, traf es sie zum ersten Mal wie ein Schlag. So fühlte es sich an, wie ein Hieb
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