Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
gegen den Kopf, der offenbar ihre Empfängerfrequenzen verstellte, sodass sie nicht das Hier und Jetzt wahrnahm, sondern etwas anderes – einen anderen Ort, eine andere Zeit, einen anderen Menschen.
Qualvolles, mühsames Atmen. Finsternis. Das Geräusch von Wassertropfen, das von Steinwänden zurückgeworfen wird. Und dann dieser entsetzliche, schrille Schrei: Hilfe, Hilfe, helft mir! Eine Tonschleife, die sich wieder und wieder in Eloises Kopf abspielte, sie wusste selbst nicht, wie lange.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf dem Fußboden. Die bleiche, zu Tode erschreckte Amanda beugte sich über sie.
»Mom«, flehte Amanda im Flüsterton, »Mom!«
Eloise rappelte sich auf und versuchte, sich zu orientieren. Das war das Letzte, was Amanda jetzt brauchte.
»Es geht mir gut, Schätzchen. Ich habe heute Mittag nichts gegessen und muss ohnmächtig geworden sein.« Eloise versuchte es mit einem zerknirschten Lächeln, konnte aber die Vision und die Angst nicht abschütteln. Was zum Teufel war da eben mit ihr passiert?
Amanda starrte Eloise mit weit aufgerissenen Augen an. Sie war Eloises Abbild, hatte Alfie immer gesagt. Aber nein, das stimmte nicht ganz, Amanda war hübscher, intelligenter und warmherziger als Eloise. In Amandas schmalem, blassem Gesicht, in den stürmischen Augen spiegelte sich Eloises eigener Kummer, der herbe Verlust wider. Und noch etwas: ein wachsender Zorn. Amanda war zu jung, um zu begreifen, wie ungerecht und unbarmherzig das Leben sein konnte. Sie war erst fünfzehn und hatte doch so viel erleiden müssen. Und in ihrem Herzen rebellierte das Kind, das gezwungen gewesen war, über Nacht erwachsen zu werden.
»Ist schon gut, meine Kleine. Schau mal, mir geht es prima.«
Draußen fing das Windspiel wie verrückt zu klirren an. Eloise hörte das Gurren der Trauertauben, die sich unter der Dachtraufe eingenistet hatten. Sie zog Amanda an sich und hielt sie fest, und sie fühlte, wie ihre Tochter die Umarmung erwiderte.
Was war mit ihr passiert? Jeder vernünftige Mensch würde an seinem Verstand zweifeln, an eine posttraumatische Belastungsstörung denken oder an einen psychotischen Schub. Eloise hatte so etwas natürlich vermutet. (Die niederschmetternde Diagnose, die vielen Tabletten in allen Regenbogenfarben kamen erst viel später.) Aber Eloise wusste es damals schon. Sie wusste, dass sie nicht verrückt geworden war. Wie Alice war sie durch den Kaninchentunnel in eine andere Welt gerutscht, an einen unvorstellbaren Ort.
Inzwischen gab es das Internet, das omnipräsente Netz aus Informationen, die die Welt zusammenhielten. Wenn Eloise heute eine Vision hatte, setzte sie sich an den Computer und googelte nach vermissten Frauen und Mädchen. Wenn sie während der Vision einen bestimmten Vogel gehört, eine bestimmte Pflanze oder Blätter gesehen, einen Dialekt oder eine Fremdsprache gehört hatte, konnte sie das in ihre Suche mit einbeziehen. Es hatte Jahre, Jahrzehnte gedauert, bis sie während der Visionen geistesgegenwärtig genug war, auf solche Details zu achten. Am Anfang war es wie ein Taumel, sie wurde von dem Gefühl, von der Todesangst überwältigt und war wie gelähmt. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und brauchte Stunden, um sich wieder zu fangen. Damals war sie gezwungen, auf die Sechs- oder Elf-Uhr-Nachrichten zu warten in der Hoffnung, dass das Ereignis, dessen Zeugin sie geworden war, in den Nachrichten Erwähnung fand. Damals gab es noch kein Kabelfernsehen und keine Privatsender, die rund um die Uhr Nachrichten brachten.
An jenem ersten Abend wurde sie die Angst überhaupt nicht mehr los. Als Amanda im Bett lag, schaltete Eloise den Fernseher ein und schaute die Nachrichten. Sie wusste selbst nicht, warum, aber sie konnte nicht anders. Und dann kam die Meldung: In Pennsylvania wurde ein Mädchen vermisst. Eine riesige Suchaktion war eingeleitet worden, und die weinende Mutter flehte potenzielle Zeugen an, sich zu melden. Sie ist in einem Brunnenschacht. Wenn du jetzt nicht anrufst, wird es zu spät sein. Sie friert und ist dehydriert. Sie wird die Nacht nicht überleben. Es war keine und wiederum doch eine Stimme. Es kam über den Äther und sickerte in Eloises Hirn ein. Es hatte einen bestimmten Klang und klang gleichzeitig nach gar nichts.
Eloise griff zum Telefon und rief die Hotline an.
Eine junge Frau meldete sich.
»Können Sie Angaben zu Katies Verbleib machen?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Würden Sie mir bitte Ihren Namen
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