Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
aus.
»Schön, dich zu sehen, Jones«, sagte Henry. Er schüttelte dem Mann die Hand und klopfte ihm auf die Schulter wie einem alten Freund. »Wir haben hier ein kleines Problem. Ich weiß, dass wir uns unterhalten müssen, aber könntest du einen Augenblick warten?«
»Klar. Kann ich helfen?«
Das ist Jones Cooper, dachte Bethany plötzlich, der Ehemann von Dr. Cooper. Sie hatte ihn im Garten arbeiten sehen, wenn sie Willow zur Gesprächstherapie brachte.
Henry stellte die beiden einander vor. Bethany mochte Jones’ festen Händedruck, seine Holzfällerjacke, die breiten Schultern. Er hatte ein sympathisches Gesicht. Irgendwie zerfurcht, solide. Er wirkte verlässlich.
»Wir vermissen zwei Mädchen«, sagte Henry, »Willow Graves ist nicht mit dem letzten Schulbus nach Hause gekommen.«
Ein Schatten flog über Jones Coopers Gesicht. Bethanys Herz fing zu rasen an.
»Wir wollten gerade zum alten Friedhof rüberfahren«, fuhr Henry fort. »Nur, um nachzuschauen.«
Jones zeigte zur Tür.
»Mein Pick-up steht draußen. Ich kann euch begleiten.«
Das Friedhofsgrundstück war trist und verwildert, und Bethany verstand sofort, warum Willow den Ort nicht mochte (abgesehen davon, dass kein vernünftiger Mensch freiwillig auf Friedhöfe ging). Er wirkte einsam und verlassen, eine wahre Ruhestätte für die vergessenen Toten. Als sie ausstiegen – Bethany und Henry waren hinter Jones Cooper hergefahren –, sah Bethany, dass der Boden mit leeren Bierdosen und Zigarettenkippen übersät war.
»Die Stadtverwaltung findet keinen neuen Friedhofswächter«, erklärte Henry. Er blieb vor einer Gedenkplakette stehen, die in die niedrige Steinmauer eingelassen war. Sie war so verwittert und verkalkt, dass sie unleserlich war. »Dabei ist es eine historisch bedeutsame Stätte. Schade, dass sie so verfällt.«
Verfällt . So wie alles, um das wir uns nicht kümmern. Sobald wir nur einen kurzen Moment nicht achtgeben, fallen die Dinge auseinander. Jones stieß das Tor auf, das mit einem jämmerlichen Quietschen nachgab. Als sie auf diesem schrecklichen Friedhof stand und die Sonne hinter dem Horizont versank, fürchtete Bethany, von ihrer Sorge und ihrer Wut und der Reue zerrissen zu werden. Warum nur waren sie hierhergezogen? Sie musste verrückt gewesen sein, als sie dachte, Willow könne an einem Ort wie diesem heimisch werden. In Wahrheit hatte sie Angst gehabt. Als sie an jenem Abend vor einem Jahr begriff, welche Gefahren in einer Stadt wie New York lauerten, besonders für Mädchen wie Willow, beschloss sie, so weit wegzuziehen wie möglich. Aber hier stand sie nun auf dem Friedhof und vermisste ihre Tochter. Sie hätte es wissen müssen. Gefahren gibt es überall. Sie lauern nicht nur in den Straßen der Großstadt, in den U-Bahnhöfen und Clubs, sondern auch auf einsamen Landstraßen und in stillen Wäldern.
Gerade wollte sie wieder zum Handy greifen, als sie Willow aus dem Wäldchen treten sah. Einen Moment lang traute sie ihren Augen kaum und fürchtete, der Anblick von Willow, Jolie und einem unbekannten, unglaublich hübschen Jungen sei reines Wunschdenken. Die drei blassen, in Schwarz gekleideten Gestalten wirkten ätherisch, wie Gespenster.
»Mom?« Willow schaffte es, Scham und Erschütterung in einer einzigen Silbe unterzubringen. Die drei Teenager sahen einander an, tauschten jenen coolen Blick aus, der von einem rebellischen Lächeln begleitet wird und klarstellen soll, wie peinlich die Gefühle der Eltern sind. Nein, das betraf nur Jolie, Willow sah verletzt und hilflos aus. Was den Jungen anging, so war sein Gesicht für Bethany ein Buch mit sieben Siegeln.
»Willow, steig ins Auto.« Mehr brachte sie nicht heraus. Die Wut und die Erleichterung waren so heftig, dass Bethany fürchtete, sich übergeben zu müssen.
»Mom!«
»Steig. Ins. Auto.«
»Wo wart ihr?«, fragte Henry Jolie, während Willow aufs Auto zustapfte.
»Wir waren spazieren«, sagte Jolie beleidigt. »Ist das verboten?«
Jones Cooper hatte die ganze Zeit geschwiegen. Er stand nur da und schaute zu. Nun trat er vor. Er ließ die Hände in den Hosentaschen stecken und blickte scheinbar gleichgültig zum Himmel hinauf.
»Im Wald ist es nicht sicher«, sagte er. Er kniff die Augen zusammen. »Das solltet ihr eigentlich wissen. Hier gibt es überall alte Minen. Außerdem ist ein großer Teil des Waldes Privatbesitz, und die Eigentümer gehen nicht gerade zimperlich mit Eindringlingen um.« Er trat gegen etwas, und Bethany hörte ein
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