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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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in einem renovierten braunen Sandsteinhaus, Parterre mit Garten.
    Das Taxi hielt vor dem Haus. Der Fahrer, ein schmächtiges Männlein mit angegrautem Haar blickte sie belustigt über die Schulter an und meinte: »So schlimm kann’s doch nicht sein, Lady. Auch wenn Sie wirklich erledigt aussehen.«
    Sie versuchte zu lächeln. »Scheint nur dieses Wetter zu sein.« Sie warf einen Blick auf den Taxameter, suchte in ihrer Tasche nach Geld und gab ein großzügiges Trinkgeld.
    Der Fahrer beugte sich nach hinten und öffnete ihr die Tür. »Junge, bei dem Wetter werden bis Geschäftsschluß eine Menge Leute schlecht gelaunt sein. Sieht aus, als würd’s wirklich Schnee geben. Wenn Sie vernünftig sind, bleiben Sie von jetzt an zu Hause.« »Ich fahre später nach Connecticut hinauf.« »Besser Sie als ich, Lady. Besten Dank.«
    Angie, ihre Zugehfrau, die zweimal wöchentlich kam, war anscheinend eben gegangen. Es roch leicht nach Möbelpolitur. Der Kamin war gesäubert, die Zimmerpflanzen zurechtgestutzt und gegossen. Wie immer empfand Sharon die erholsame Atmosphäre ihrer Wohnung als eine Wohltat. Der alte Orientteppich, der einst ihrer Großmutter gehörte, hatte mit der Zeit weiche Rot- und Blautöne angenommen. Die blaue Couch und den Stuhl, beides aus zweiter Hand, hatte sie neu bezogen - eine Arbeit, die sie fast vier Wochenenden kostete, die sich aber gelohnt hatte. Die Bilder und Drucke an den Wänden über dem Kamin hatte sie nacheinander in kleinen Antiquitätengeschäften, auf Auktionen und Auslandsreisen zusammengesucht.
    Steve liebte dieses Zimmer. Die kleinste Veränderung darin fiel ihm sofort auf. »Du verstehst es, ein Heim gemütlich zu machen«, hatte er zu ihr gesagt.
    Mechanisch ging sie ins Schlafzimmer und begann sich auszuziehen. Sie wollte duschen, sich umziehen, Tee kochen und dann versuchen, eine Weile zu schlafen. Im Augenblick konnte sie nicht einmal zusammenhängend denken.
    Es war fast Mittag, als sie endlich ins Bett kam. Sie stellte den Wecker auf halb vier. Lange Zeit konnte sie nicht einschlafen. Ronald Thompson. Sie war so fest überzeugt gewesen, daß die Gouverneurin das Urteil mildern würde. Zweifellos war er schuldig; daß er es leugnete, hatte ihm sicher geschadet. Aber bis auf die eine bedenkliche Episode in seinem fünfzehnten Lebensjahr hatte er ein gutes Leumundszeugnis. Und er war so jung.
    Steve. Leute wie Steve waren es, die die öffentliche Meinung formten. Weil Steve bekannt war für seine Integrität, für seine Fairneß, hörten die Leute auf ihn.
    Liebte sie Steve? Ja.
    Wie sehr? Ganz unsagbar.
    Wollte sie ihn heiraten? Sie würde heute abend darüber sprechen müssen. Sie wußte, daß Steve sie deshalb heute bei sich haben wollte. Außerdem wünschte er sich so sehr, daß Neil sie allmählich akzeptieren würde. Aber sie machte sich wenig Hoffnung. Beziehungen konnte man nicht erzwingen. Neil verhielt sich ihr gegenüber so reserviert, so ablehnend. Sie fragte sich, ob er etwas gegen sie persönlich hatte oder ob er auf jede Frau, die ihm die ausschließliche Aufmerksamkeit seines Vaters nahm, so reagieren würde. Sie war sich nicht sicher.

    Würde sie gern in Carley wohnen? Sie liebte New York so sehr, liebte es jeden Tag aufs neue. Aber Steve würde niemals mit Neil in die Stadt ziehen.
    Sie stand gerade am Anfang einer Karriere als Schriftstellerin. Ihr Buch hatte die sechste Auflage erreicht. Es war als Taschenbuch erschienen; kein Verlag wollte eine gebundene Ausgabe riskieren; aber die Besprechungen und die Verkaufszahlen waren überraschend gut.
    War dies der richtige Zeitpunkt, eine Ehe einzugehen, eine Ehe mit einem Mann, dessen Kind eifersüchtig war? Steve. Unbewußt berührte sie ihr Gesicht bei der Erinnerung an das Gefühl seiner großen, sanften Hände, die er heute morgen beim Abschied wärmend um ihr Gesicht gelegt hatte. Sie fühlten sich so verzweifelt zueinander hingezogen…
    Aber wie konnte sie seine Kompromißlosigkeit, seine Hartnäckigkeit akzeptieren, sobald er sich einmal zu einem Thema seine Meinung gebildet hatte?
    Schließlich döste sie ein. Und fast sofort begann sie zu träumen. Sie schrieb einen Artikel.
    Sie mußte ihn zu Ende schreiben. Es war sehr wichtig, daß sie ihn zu Ende schrieb. Aber so heftig sie auch auf die Schreibmaschine einhämmerte, die Typen schrieben nichts, das Papier blieb leer. Dann war Steve im Zimmer. Er zog einen jungen Mann am Arm. Sie versuchte noch immer, Worte aufs Papier zu bringen. Steve drückte den

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