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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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mal ein Vogel satt. Ich komm’ ja schon, Bill!«
    Endlich waren sie fort. Sharon fröstelte, als ein kalter Windstoß in die Halle fegte, bevor sie die Haustür hinter den Lufts schließen konnte. Sie ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und holte sich die Flasche Bristol Cream Sherry. Sie überlegte kurz und nahm dann auch eine Tüte Milch heraus. Neil hatte zwar gesagt, er wolle nichts haben, aber sie würde ihm trotzdem eine Tasse heißen Kakao machen.
    Während sie wartete, daß die Milch heiß wurde, nippte sie an ihrem Sherry und sah sich ein wenig um. Mrs. Luft tat ihr Bestes, aber sie war keine gute Hausfrau, und die Küche sah etwas unordentlich aus. Um den Toaster lagen Krümel verstreut. Die Herdplatte hätte mal gründlich gesäubert werden können. Im Grunde hätte das ganze Haus ein wenig Kosmetik gebraucht.
    Steves Grundstück grenzte hinten an den Long Island Sund. Ich würde alle Bäume fällen lassen, die den Blick darauf versperren, dachte Sharon, und die rückwärtige Veranda würde ich ausbauen und mit dem Wohnzimmer verbinden, mit Fenstern vom Boden bis zur Decke, und alle nicht notwendigen Wände würde ich abreißen lassen und eine Frühstücksbar einrichten… Dann besann sie sich plötzlich. Dies alles ging sie nichts an. Es war nur, weil das Haus und Neil und sogar Steve so vernachlässigt aussahen.
    Aber es war nicht ihre Sache, hier etwas zu verändern. Der Gedanke, Steve nicht wiederzusehen, nicht mehr seinen Anruf zu erwarten, seine starken, sanften Arme nicht mehr zu fühlen, nicht mehr jene plötzliche Sorglosigkeit zu sehen, die sein Gesicht erhellte, sobald sie etwas sagte, was ihn erheiterte, erfüllte sie mit trostloser Einsamkeit. So ist es, wenn man jemanden aufgeben muß, dachte sie. Was muß Mrs. Thompson empfinden bei dem Gedanken, daß ihr einziges Kind übermorgen sterben wird?
    Sie hatte die Telefonnummer von Mrs. Thompson. Als sie sich entschlossen hatte, sich für Rons Fall einzusetzen, hatte sie Mrs. Thompson interviewt. Während ihrer letzten Reise hatte sie mehrmals versucht, Mrs. Thompson anzurufen, um ihr persönlich mitzuteilen; daß viele einflußreiche Leute versprochen hatten, sich an Gouverneur Greene zu wenden und auf ein milderes Urteil zu drängen. Aber sie hatte sie nie zu Hause erreicht; wahrscheinlich weil sich Mrs. Thompson um ein Gnadengesuch von den Leuten in Fairfield County bemüht hatte.
    Arme Frau. Sie war so hoffnungsvoll, als Sharon sie besuchte, und schien dann sehr empört, als sie merkte, daß Sharon Ron nicht für unschuldig hielt.
    Aber welche Mutter würde schon glauben, daß ihr Sohn eines Mordes fähig war. Vielleicht war Mrs. Thompson jetzt zu Hause. Vielleicht würde es ihr helfen, mit einem Menschen zu sprechen, der sich für Ronalds Rettung eingesetzt hatte.
    Sharon stellte die Flamme unter dem Milchtopf kleiner, ging zu dem Wandtelefon und wählte die Nummer. Schon nach dem ersten Rufzeichen meldete sich Mrs. Thompson. Ihre Stimme klang erstaunlich ruhig. »Hallo.«
    »Mrs. Thompson, hier spricht Sharon Martin. Ich mußte Sie einfach anrufen, um Ihnen zu sagen, wie leid es mir tut, und um Sie zu fragen, ob ich irgend etwas für Sie tun kann…«
    »Sie haben genug getan, Miß Martin.« Die Bitterkeit in der Stimme der Frau verschlug Sharon den Atem. »Wenn mein Junge am Mittwoch stirbt, möchte ich, daß Sie wissen, daß ich Sie dafür verantwortlich mache. Ich habe Sie gebeten, sich aus der Sache herauszuhalten.«
    »Mrs. Thompson… Ich weiß nicht, was Sie meinen…«
    »Ich meine, daß Sie in allen Ihren Artikeln immer und immer wieder geschrieben haben, daß es keinen Zweifel an Ronalds Schuld gibt und daß es darum auch gar nicht ginge. Aber genau darum geht es, Miß Martin!« Die Stimme der Frau klang jetzt erregt. »Das ist der springende Punkt. Es gab viele Leute, die meinen Jungen kennen, die wissen, daß er nicht fähig ist, jemandem weh zu tun, und die sich für ein Gnadengesuch einsetzten. Aber Sie… Sie haben die Gouverneurin gezwungen, seinen Fall nicht einzig und allein nach dem vorliegenden Tatbestand zu prüfen. Wir versuchen es immer noch, und ich glaube nicht, daß Gott mir das antun wird, aber wenn mein Sohn stirbt - ich glaube nicht, daß ich dann verantwortlich bin für das, was ich Ihnen vielleicht antue.« Die Verbindung wurde unterbrochen. Verwirrt starrte Sharon auf den Hörer in ihrer Hand. Konnte Mrs. Thompson wirklich glauben… ? Die Milch auf dem Herd kochte beinahe über. Mechanisch holte

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