Gnadenfrist
er Sandy glauben sollte oder nicht. »Weil sie dagegen ist, daß Verbrecher getötet werden, und dein Vater dafür. Mein Vater hat gesagt, daß dein Vater recht hat. Er sagt, der Kerl, der deine Mutter umgebracht hat, soll braten.«
Sandy wiederholte das letzte Wort mit Nachdruck.
»Braten!«
Neil wandte sich zum Fenster. Er lehnte seine Stirn gegen das kühle Glas. Draußen war alles grau, und es fing eben an zu schneien. Er wünschte, es wäre schon Abend. Er wünschte, sein Vater wäre gestern abend zu Hause gewesen. Er war nicht gern allein mit den Lufts. Sie waren zwar beide nett zu ihm, aber sie zankten sich oft, und Mr. Luft ging in die Kneipe, und Mrs. Luft ärgerte sich darüber und war schlecht gelaunt, obwohl sie das vor ihm zu verheimlichen suchte.
»Bist du nicht froh, daß sie Ronald Thompson am Mittwoch töten?« fragte Sandy hartnäckig.
»Nein… Ich meine… Ich denk’ nicht drüber nach«, sagte Neil leise.
Aber das stimmte nicht. Er dachte viel darüber nach. Er träumte auch die ganze Zeit davon, immer den gleichen Traum von jener Nacht. Er war in seinem Zimmer und spielte mit seiner Eisenbahn. Mami war in der Küche und packte die Einkäufe weg. Draußen wurde es gerade dunkel. Einer seiner Züge entgleiste, und er schaltete den Trafo aus.
In dem Augenblick hörte er das komische Geräusch; es war wie ein Schrei, aber nicht laut.
Er war die Treppe hinuntergelaufen. Im Wohnzimmer war es fast dunkel, aber er hatte sie gesehen. Mami. Ihre Arme versuchten, jemanden wegzustoßen. Sie gab schreckliche, würgende Geräusche von sich. Der Mann schlang etwas um ihren Hals. Neil war auf dem Treppenabsatz stehengeblieben. Er wollte ihr helfen, konnte sich jedoch nicht bewegen. Er wollte um Hilfe rufen, aber seine Stimme gehorchte ihm nicht. Er begann, wie seine Mutter zu atmen, machte komische Gurgellaute, und dann wurden seine Knie ganz weich. Der Mann drehte sich um, als er ihn hörte, und ließ Mami fallen.
Auch Neil stürzte. Er spürte, wie er fiel. Dann wurde das Zimmer heller. Mami lag auf dem Boden. Sie streckte die Zunge heraus. Ihr Gesicht war ganz blau, ihre Augen starr. Der Mann kniete jetzt neben ihr. Seine Hände lagen auf ihrem Hals. Er sah hoch, sah Neil an und rannte fort; aber Neil konnte sein Gesicht deutlich sehen. Es war über und über mit Schweiß bedeckt und angstverzerrt.
Neil hatte dies alles dem Polizisten erzählen müssen, und bei der Verhandlung mußte er auf den Mann zeigen. Dann hatte Dad gesagt: »Versuch es zu vergessen, Neil. Denk nur an die schöne Zeit mit Mami.« Aber er konnte es nicht vergessen. Er träumte immerzu davon und wachte mit Asthma auf.
Nun würde Dad vielleicht Sharon heiraten. Sandy hatte ihm erzählt, daß alle Leute sagten, sein Vater würde wahrscheinlich wieder heiraten. Sandy sagte, daß niemand Kinder von anderen Frauen haben wolle, schon gar nicht solche, die oft krank seien.
Mr. und Mrs. Luft redeten andauernd davon, daß sie nach Florida ziehen wollten. Neil fragte sich, ob sein Vater ihn zu den Lufts geben würde, wenn er Sharon heiratete. Er hoffte, er würde es nicht tun. Trübsinnig starrte er aus dem Fenster und war so in Gedanken versunken, daß Sandy ihn knuffen mußte, als der Bus vor ihrer Schule hielt.
Mit kreischenden Bremsen kam das Taxi vor dem Gebäude des News Dispatch in der östlichen 42. Straße zum Stehen. Sharon kramte in ihrer Handtasche, zog zwei Dollar hervor und bezahlte den Fahrer.
Das Schneegestöber hatte für kurze Zeit nachgelassen, aber die Temperatur sank noch immer, und das Trottoir war ziemlich glatt.
Sie ging direkt in die Nachrichtenzentrale, wo man bereits mitten in den Vorbereitungen für die Nachmittagsausgabe steckte. In ihrem Fach fand sie eine Nachricht, sie solle sofort zum leitenden Lokalredakteur kommen.
Beunruhigt von der Dringlichkeit der Aufforderung eilte sie durch den lärmerfüllten Saal.
Der Chef der Lokalredaktion war allein in seinem bis obenhin vollgestopften Büro. »Kommen Sie herein, und schließen Sie die Tür.« Er wies mit der Hand auf einen Stuhl. »Haben Sie Ihre Kolumne für heute?«
5
»Irgendeine Anspielung, die Gouverneurin anzurufen oder ihr zu telegrafieren, damit sie das Thompson-Urteil mildere?«
»Gewiß. Ich habe darüber nachgedacht. Ich werde die Einleitung ändern. Die Tatsache, daß die Gouverneurin sagte, sie werde nichts gegen die Hinrichtung unternehmen, könnte eine Chance sein. Für eine ganze Menge Leute könnte dies der Anstoß sein, nun auch
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