Gnadenfrist
füllte den Türrahmen. Ihr kleines Gesicht mit den hellen, neugierigen Augen erinnerte an ein Eichhörnchen. Sie trug einen dicken, rotkarierten Mantel und Überschuhe.
»Guten Tag, Mrs. Luft.« Sharon ging an ihr vorbei ins Haus. Mrs. Luft hatte die Angewohnheit, ihrem jeweiligen Gesprächspartner sehr nahe zu rücken, so daß der Kontakt mit ihr unweigerlich etwas Erstickendes hatte. Nun wich sie zwar etwas zurück, aber nur so viel, daß Sharon sich eben an ihr vorbeidrücken konnte.
»Es ist furchtbar nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind«, sagte Mrs. Luft. »Kommen Sie, geben Sie mir Ihr Cape. Ich liebe Capes. Man sieht darin so reizend und feminin aus, nicht wahr?«
Sharon legte Taschenbuch und Reisetasche in der Halle ab und zog ihre Handschuhe aus.
»Kann sein. Ich habe noch nie richtig darüber nachgedacht…« Sie warf einen Blick ins Wohnzimmer. »Oh…«
Neil saß im Schneidersitz auf dem Teppich mit einer stumpfen Schere in der Hand. Rings um ihn verstreut lagen alle möglichen Zeitschriften. Sein strohblondes Haar, das er vom Vater geerbt hatte, fiel ihm in die Stirn und ließ seinen zarten und verletzlich wirkenden Nacken frei. Unter seinem braunweißen Flanellhemd zeichneten sich seine eckigen Schultern ab. Sein Gesicht war schmal und blaß bis auf die roten Ränder um seine großen dunkelbraunen Augen, die in Tränen schwammen.
»Neil, sag’ Sharon guten Tag«, befahl Mrs. Luft. Lustlos schaute er auf. »Hallo, Sharon«, sagte er mit leiser und zitternder Stimme.
Er sah so klein und schmächtig und vergrämt aus. Sharon hätte ihn am liebsten in die Arme genommen; aber sie wußte, er würde sich nur wieder vor ihr zurückziehen.
Mrs. Luft schnalzte ein paarmal mit der Zunge. »Ich wäre heilfroh, wenn ich wüßte, was mit ihm los ist. Vor ein paar Minuten fing er plötzlich an zu weinen. Er will mir aber nicht sagen, warum. Man weiß nie, was in diesem kleinen Kopf vorgeht. Nun, vielleicht kriegen Sie’s heraus oder sein Vater.« Ihre Stimme hob sich um eine Oktave: »Billll…«
Sharon fuhr zusammen; ihre Trommelfelle dröhnten. Hastig ging sie ins Wohnzimmer und blieb vor Neil stehen.
»Was sollst du denn ausschneiden?« fragte sie.
»Nur ein paar blöde Bilder mit Tieren«, antwortete Neil, sah sie dabei aber nicht an. Sie wußte, es war ihm peinlich, daß er beim Weinen ertappt worden war.
»Ich werde mir jetzt einen Sherry nehmen und dir dann helfen. Möchtest du eine Cola oder irgend etwas anderes?«
»Nein.« Er zögerte, dann fügte er widerwillig »danke« hinzu.
»Bitte, bedienen Sie sich nur«, sagte Mrs. Luft. »Fühlen Sie sich wie zu Hause. Sie wissen ja, wo alles ist. Ich habe alles besorgt, was mir Mr. Peterson aufgeschrieben hat - Steaks und Salat und Spargel und Eiskrem. Ist alles im Kühlschrank. Sie müssen entschuldigen, daß ich so in Eile bin, aber wir wollen vor dem Kino noch essen gehen. Bill…«
»Ich komm’ ja schon, Dora«, antwortete Bill Luft leicht gereizt von der Kellertreppe her.
»Ich hab’ nur noch mal nach den Fenstern gesehen, daß sie auch alle richtig zu sind«, sagte er.
»Hallo, Miß Martin.«
»Guten Tag, Mr. Luft.« Er war ein kleiner, kräftiger Mann mit wäßrig blauen Augen. Die verräterischen Flecken auf seinen Wangen und Nasenflügeln - winzige zerstörte Blutgefäße -
erinnerten Sharon daran, daß Steve sich wegen Bill Lufts starkem Alkoholkonsum Sorgen machte.
»Bill, nun beeil dich bitte.« Mrs. Lufts Stimme war scharf vor Ungeduld. »Du weißt, wie ich es hasse, mein Essen nur so ‘runterzuschlingen, und die Zeit wird allmählich knapp. Wo du sowieso nur an unserem Hochzeitstag mit mir ausgehst, könntest du dich wenigstens beeilen…«
»Ist ja gut.« Bill seufzte schwer und nickte Sharon zu. »Bis später, Miß Martin.«
Sharon folgte ihm in die Halle. »Ach ja, und alles Gute zum Hochzeitstag.«
»Setz deinen Hut auf, Bill. Du wirst dir den Tod holen… Was? O danke, vielen Dank, Miß Martin. Wenn ich erst mal sitze und zur Ruhe komme und was zu essen habe, werde ich auch an unseren Hochzeitstag denken. Aber jetzt bei all der Hetzerei…«
»Dora, du willst doch diesen Film sehen.«
»Schon gut. Ich hab’ alles. Viel Spaß Ihnen beiden. Neil, zeig’ Sharon dein letztes Zeugnis.
Er ist wirklich ein kluger Junge und auch keine Plage, nicht war, Neil? Ich hab’ ihm einen kleinen Imbiß zurechtgemacht, damit er bis zum Abendessen durchhält, aber er hat kaum etwas angerührt. Von dem, was er ißt, würde nicht
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