Gnadenfrist
Stimme sagte sie: »Einatmen - ausatmen, immer schön langsam durch die Nase atmen.« Er versuchte zu gehorchen, ein… aus… »Du bist tapfer, Neil. Denk daran, daß du das alles deinen Freunden erzählen kannst.«
Manchmal fragte ihn Sandy über den Tag aus, an dem Mami verletzt wurde. »Wenn jemand anfinge, meiner Mutter weh zu tun«, sagte Sandy, »würde ich dafür sorgen, daß er das bleiben läßt.«
Vielleicht hätte er imstande sein sollen, den Mann zu vertreiben. Er wollte Dad danach fragen, hatte es jedoch nie getan. Dad sagte immer, er solle nicht mehr an diesen Tag denken.
Aber manchmal konnte er nicht anders. Ein… aus… Er fühlte Sharons Haar an seiner Wange.
Es schien ihr nichts auszumachen, daß er so dicht neben ihr lag. Warum hatte dieser Mann sie hierhergebracht? Er wußte, wer er war. Er hatte ihn vor ein paar Wochen gesehen, als Mr.
Luft ihn zu der Werkstatt mitnahm, wo der Mann arbeitete.
Seit jenem Tag hatte er oft schlecht geträumt. Einmal wollte er Dad davon erzählen, aber dann kam Mrs. Luft herein, und er kam sich so dumm vor und sagte nichts mehr. Mrs. Luft stellte immer so blöde Fragen: »Hast du dir die Zähne geputzt? Hast du in der Mittagspause den Schal anbehalten? Fühlst du dich wohl? Hast du gut geschlafen? Hast du dein Mittagessen aufgegessen? Hast du nasse Füße bekommen? Hast du deine Sachen aufgehängt?« Und sie ließ ihn nie richtig antworten. Sie stöberte nur in seiner Tasche herum, um zu sehen, ob er alles gegessen hatte, und ließ ihn den Mund aufmachen, damit sie in seinen Hals schauen konnte.
Mit Mami war es ganz anders gewesen. Mrs. Luft war damals nur einmal in der Woche gekommen, um sauberzumachen. Erst nachdem Mami in den Himmel gekommen war, zogen die Lufts im Obergeschoß ein, und damit änderte sich alles. Während er darüber nachdachte und Sharon zuhörte, waren seine Tränen von selbst versiegt. Er fürchtete sich zwar auch jetzt, aber es war anders als damals, als Mami umfiel und er allein zurückblieb.
Es war anders als damals. Der Mann.
Wieder atmete er zu schnell und begann zu würgen. »Neil -« Sharon rieb ihr Gesicht gegen seins. »Versuche dir vorzustellen, wie es sein wird, wenn wir hier herauskommen. Dein Vater wird froh sein, wenn er uns wiedersieht. Ich wette, er wird mit uns ausgehen. Weißt du, ich würde gern mit euch Schlittschuh laufen gehen. Du bist damals nicht mitgekommen nach New York. Dabei wollten wir anschließend mit dir in den Zoo gehen, der gleich neben der Eisbahn liegt…«
Er lauschte ihren Worten.
Sharon hörte sich an, als meinte sie, was sie sagte. Er hatte damals vorgehabt, nach New York mitzufahren, aber als er Sandy davon erzählte, sagte er, Sharon würde wahrscheinlich gar nicht wollen, daß er mitkäme; sie hätte Neil nur eingeladen, um nett zu seinem Vater zu sein.
»Dein Vater hat mir erzählt, er will dich im nächsten Herbst zu den Fußballspielen nach Princeton mitnehmen«, sagte sie. »Als ich im College war, ging ich immer zu den Darthmouth-Spielen. Jedes Jahr spielen sie gegen Princeton, aber dein Dad ging damals schon nicht mehr aufs College. Ich besuchte ein Mädchencollege, Holyoke, es liegt nur zwei Stunden von Darthmouth entfernt. An manchen Wochenenden, besonders während der Fußballsaison, fuhr immer eine ganze Schar von uns dorthin…«
Neil fand, ihre Stimme klang so komisch, wie ein knurrendes Flüstern.
»Viele Männer bringen ihre Familien zu den Spielen mit. Dein Vater ist sehr stolz auf dich.
Er sagt, du bist sehr tapfer, wenn du die Spritzen gegen das Asthma bekommst. Er meint, die meisten Kinder würden Theater machen, wenn sie jede Woche eine Spritze bekämen, aber du würdest dich nie beklagten oder weinen. Das ist wirklich tapfer…«
Das Sprechen fiel ihr allmählich schwer. Sie versuchte zu schlucken. »Neil, jetzt schmiedest du Zukunftspläne. Das mache ich auch immer, wenn ich Angst habe oder krank bin. Ich plane etwas Hübsches, etwas, das mir bestimmt Spaß machen wird. Als ich voriges Jahr im Libanon war - das ist ein Land ungefähr fünftausend Meilen von hier entfernt -, schrieb ich eine Geschichte über den Krieg, den sie dort führten. Ich wohnte in einem schäbigen Hotel, und eines Nachts wurde ich krank. Ich hatte eine Erkältung und Fieber, war ganz allein, und alles tat mir weh, die Arme, die Beine, genau wie jetzt mit den Fesseln… Und ich zwang mich, an etwas Schönes zu denken, das ich tun würde, wenn ich wieder zu Hause wäre.« Ihre Stimme wurde
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