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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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leiser. Er mußte angestrengt hinhören, um jedes ihrer Worte zu verstehen.
    »Und ich finde, wir sollten einen Extraspaß für dich planen, ein wirkliches Vergnügen. Du weißt, dein Vater sagt, die Lufts wollen in allernächster Zeit nach Florida ziehen.« Neil fühlte, wie sich eine bleierne Faust auf seine Brust senkte.
    »Langsam, Neil! Denk daran: einatmen… ausatmen… Also, als dein Vater mir euer Haus zeigte, sah ich auch das Zimmer der Lufts, und als ich dort oben aus dem Fenster schaute, sah es aus wie auf einem meiner Bilder. Du kannst von dort oben den ganzen Hafen überblicken, siehst die Bote und den Sund und die Insel. Wenn ich du wäre, würde ich, sobald die Lufts nach Florida gezogen sind, dieses Zimmer für mich nehmen. Ich würde Bücherregale hineinstellen und Borde für die Spiele und einen Schreibtisch. Der Alkoven ist so groß, daß du dort deine Eisenbahn wunderbar aufbauen könntest. Dein Vater sagte, du hast früher sehr gern mit deiner Eisenbahn gespielt. Ich hatte auch eine, als ich klein war. Ich habe noch ein paar große Lionelzüge, die früher meinem Vater gehörten, so alt sind sie schon. Ich würde sie gern dir geben.«
    Wenn die Lufts nach Florida ziehen… Wenn die Lufts nach Florida ziehen… Sharon erwartete nicht, daß er mit ihnen ging. Sharon meinte, er sollte ihr Zimmer bekommen.
    »Und ich fürchte mich jetzt, mir ist unbehaglich, und ich wünschte, ich käme hier endlich raus; aber ich bin froh, daß du bei mir bist, und ich werde deinem Vater sagen, wie tapfer du warst und wie sehr du dich bemüht hast, langsam zu atmen und nicht zu keuchen.«
    Der schwere schwarze Stein, der immer fest auf Neils Brust zu sitzen schien, geriet ein wenig ins Wanken. Sharons Stimme schob ihn vor und zurück, genauso, wie er einen wackelnden Milchzahn mit der Zunge hin und her bewegen und lockern konnte. Neil wurde plötzlich schrecklich müde. Seine Hände waren gefesselt, aber er konnte die Finger bewegen und über Sharons Arm gleiten lassen, bis er fand, was er suchte ein Stück von ihrem Ärmel, das er festhalten konnte. Kurz darauf schlief er ein.
    Sein rasselnder Atem fand einen gleichmäßigen Rhythmus. Besorgt lauschte Sharon auf die kurzen, mühsamen Atemstöße. Es war so kalt in diesem Raum, so feucht, und Neil war bereits erkältet. Aber sie lagen so dicht beieinander, daß sie sich wenigstens gegenseitig wärmen konnten.
    Wie spät mochte es sein? Sie waren kurz nach halb acht Uhr hier gewesen. Der Mann -
    Foxy - war einige Stunden bei ihnen geblieben. Wie lange war er inzwischen fort?
    Mitternacht mußte vorbei sein. Jetzt war Dienstag. Foxy sagte, sie würden bis Mittwoch hierbleiben. Woher würde Steve an einem Tag 82 000 Dollar bekommen? Und warum ausgerechnet diese Summe? Ob er versuchen würde, sich mit ihren Eltern in Verbindung zu setzen? Das wäre ziemlich schwierig, denn sie lebten zur Zeit im Iran. Wenn Neil aufwachte, würde sie ihm von Persien erzählen und von ihrem Vater, der dort als Ingenieur arbeitete.
    »Am Mittwoch morgen gehen wir beide, du und ich, fort, und ich werde eine Nachricht hinterlassen, wo der Junge zu finden ist.« Sie dachte über dieses Versprechen nach. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als so zu tun, als wollte sie mit ihm gehen. Aber sobald sich Neil in Sicherheit befand und nur sie und der Entführer im Bahnhof waren, würde sie schreien -
    gleichgültig, was er mit ihr machen würde. Sie mußte es wagen.
    Warum in aller Welt hatte er sie bloß entführt? Er hatte eine merkwürdige Art, Neil anzusehen. Als ob er ihn hassen und - fürchten würde. Aber das war unmöglich.
    Hatte er Neil die Augenbinde nicht abgenommen, weil er fürchtete, Neil könnte ihn wiedererkennen? Vielleicht stammte er aus der Gegend von Carley. Wenn das zutraf, wie konnte er Neil dann am Leben lassen? Neil hatte ihn gesehen, als er ins Haus eindrang. Neil hatte ihn angestarrt. Neil würde diesen Mann erkennen, wenn er ihn wiedersah, davon war sie fest überzeugt. Und er mußte das ebenfalls wissen. Wollte er Neil töten, sobald er das Geld in Händen hielt?
    Ja. Es konnte nicht anders sein.
    Selbst wenn er sie von hier fortbrachte, war es vielleicht für Neil schon zu spät.
    In ihrer jäh aufsteigenden Angst und ihrem Zorn rückte sie näher an Neil heran. Sie zog ihre Beine an und versuchte, ihn mit ihrem Körper schützend zu umfangen. Morgen. Mittwoch.
    Die gleiche Wut, Angst und Hilflosigkeit, das gleiche Urbedürfnis, ihr Junges zu beschützen, mußte jetzt

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