Gnadenlos (Sara Cooper)
Wochen hier durchgemacht habe? Mittlerweile hoffe ich nur noch auf ein Wunder. Dass irgendwer kommt und mich hier rausholt.“ Sallys Mundwinkel formten ein wehmütiges Lächeln. „Weißt du, Freiheit findest du an solch einem Ort nur hier.“ Sie legte ihren Finger sanft auf Mias Herz. „Anders ist es nicht zu ertragen“, fügte sie leise hinzu.
Sally nahm Mia an den Schultern und blickte ihr in die Augen. „Mia, denk nach. Irgendwer will dir hier übel mitspielen. Ich habe lange nachgedacht, warum ausgerechnet ich hier sitze. Und ich glaube, dass sie einfach einen Sündenbock für den Polizistenmord brauchten. Dieser Mann sollte sterben. Und dafür brauchten sie einen Täter. Und der bin ich. In meiner Heimat wird mich niemand vermissen. Und glaub mir, so geht es den meisten hier. Alles ein Kinderspiel. Punkt!“
Mia schaute auf. „Du meinst, ich bin der Sündenbock für irgendwas?“, fragte sie.
„Ja, oder du bist für irgendwen eine große Gefahr.“
Kapitel 24
La Jolla, San Diego
Lydia schrak in ihrem Bett zusammen. Ein lauter Knall hatte sie aufgeweckt. Die dünnen Vorhänge flatterten vor dem mondhellen Fenster, die Digitaluhr auf ihrem Nachttisch zeigte kurz nach 1 Uhr an. Sie blickte sich um, aber die linke Seite ihres Bettes war leer und das Laken schien nicht angerührt worden zu sein. Ihr fiel ein, dass sie nach dem Abendessen mit Geoffreys Familie eine Tablette genommen hatte, um einzuschlafen. Ihre Gedanken kreisten ständig um ihre Tochter, sie machte sich große Sorgen. Sie rieb sich die Augen, als wieder ein Geräusch zu ihr drang, ein hallendes Scheppern. Mit einem Ruck saß sie kerzengerade in ihrem Bett und starrte in den Raum. „Geoffrey?!“, sagte sie kaum hörbar. Stille. Sie knipste die Nachttischlampe an und nahm ihren Morgenmantel, der ordentlich gefaltet am Fußende lag. Langsam stand sie auf, zog sich den Mantel über und ging zum Fenster. Die Straße lag friedlich vor ihr, es war dunkel, nur in einem der Nachbarhäuser war noch Licht zu sehen. Dann wieder ein Scheppern. Ruckartig drehte Lydia sich um und ging zur Tür. Ihr Puls hämmerte gegen ihre Schläfen, ihre Hände und Knie zitterten, als sie vorsichtig die Tür öffnete.
Der Flur lag dunkel vor ihr und der weiche Teppich schluckte Lydias Schritte. Sie hatte sich immer sicher in Geoffreys Haus gefühlt, geborgen und sicher, aber in diesem Moment erschien ihr die Ruhe gespenstisch. Wo war nur Geoffrey? Sie war an der Treppe angelangt, die ins Erdgeschoss führte. Auch unten war alles dunkel, nur die Straßenlampe schien schwach durchs Fenster. Lydia ging Stufe für Stufe hinunter. Sie hielt sich mit ihren schweißnassen Händen am Geländer fest und hörte nur die Äste der Bäume draußen im Wind rascheln. „Geoffrey?“, fragte sie in die Dunkelheit hinein. Aber nichts. Unten angelangt bemerkte sie, dass das Vorhängeschloss an der Tür lose herab hing. Lydia durchschauerte es. Geoffrey legte die Kette immer vor, wenn er schlafen ging. Sie knipste das Licht an und ging zum Wohnzimmer. Der Flur wirkte heute unendlich lang, obwohl es nur ein paar Schritte waren, die Lydia zurücklegen musste. Als sie in der Tür stand, zog sich ihr Magen zusammen. Die kleine Stehlampe über Geoffreys Lesesessel leuchtete schwach, aber von ihrem Mann war nichts zu sehen. Auf dem Tisch erkannte Lydia zwei halbvolle Gläser. Hatte Geoffrey noch Besuch bekommen? Sie wollte den großen Kronleuchter anschalten, da fiel ihr eine Gestalt auf, die in der Ecke kauerte. „Geoffrey!“, rief sie und wollte besorgt zu ihm eilen. Doch sie stolperte über etwas. Erst dachte sie, die Kinder hätten wieder überall ihre Spielsachen liegen gelassen, aber sie lag falsch. Sie erstarrte, als sie erkannte, worüber sie beinahe gefallen war. Geoffrey. Ihr Mann lag blutüberströmt neben dem Sofa, er rührte sich nicht. Lydia wich zurück und fiel fast über ihre eigenen Füße. Sie begriff nur langsam. Als sie endlich in die Ecke schaute, richtete sich die Gestalt wie eine Kobra zu ihrer vollen Größe auf und eine dunkle Silhouette zeichnete sich vor der weißen Wand ab. Lydia blieb wie angewurzelt stehen. Obwohl ihr ganzer Körper zitterte, drehte sie sich blitzartig um und lief los. In einem der Nachbarhäuser hatte sie Licht gesehen, nur dieser eine Gedanke trieb Lydia nach draußen. Sie musste das Haus erreichen. Sie schrie, sie schrie um ihr Leben, als sie den Flur entlang stürmte, die Haustür aufriss und über den kalten Kiesweg rannte.
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