Gnosis
sie ihn je geliebt? Die Worte hatte sie wohl oft gesagt, aber hatte sie es auch wirklich gemeint? Oder hatte sie die sexuelle Erregung mit dem einzigen Gefühl verwechselt, das ihr ein Leben lang versagt geblieben war?
«Du hast mir viel bedeutet, Michael. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt … jetzt habe ich nur noch Angst vor dir.»
«Warum kannst du mir nicht verzeihen?»
«Weil ich dir nicht trauen kann. Und weil …»
Weil du denkst, dass er genauso irre ist wie alle anderen. Fast könntest du ihm verzeihen, wenn du ihm denn glauben würdest, dass er dich wirklich liebt. Aber er liebt doch nicht dich, oder? Es geht um die Musik. Immer nur um die Musik.
«Michael, bitte …» Winter weinte. «Ich lass die Anzeige fallen, aber du musst mich gehen lassen. Ich bitte dich!»
«Ich krieg dich einfach nicht aus meinem Kopf. Sobald ich die Augen schließe, bist du da. Ich höre dich spielen, und ich …»
«Ich will dich nie mehr wiedersehen. Hast du mich verstanden?»
Michael schwieg ein paar Sekunden, doch als er heiser weitersprach, bekam seine Stimme so etwas Hastiges, Manisches, dass es Winter eiskalt über den Rücken lief.
«Ich könnte heute Abend zu deinem Konzert kommen, und wir könnten noch ein letztes Mal darüber reden. Ich …»
Winter knallte den Hörer auf – ihr Herz schlug bis zum Hals. Da klopfte es an der Tür. Sie erschrak so heftig, dass sie fast aufschrie. Winter kam sich albern vor, ging zur Tür und sah durch den Spion.
Als sie Joseph Uecker erkannte, seufzte sie erleichtert. Sie öffnete die Tür und blickte zu dem muskulösen Wachmann auf. Sein dunkelblauer Anzug und das weiße Hemd spannten etwas. Wie üblich wirkte er leicht betreten. Wenn sie ihn nur ansah, fühlte sie sich schon sicher.
«Tut mir leid, wenn ich störe, Ma’am. Aber da ist ein Mann, der Sie unbedingt … sprechen will.»
Der Bodyguard blickte kurz nach rechts. Winter beugte sich zur Tür hinaus und folgte seinem Blick. Und da stand er – wie aus einem Traum. Einem Albtraum.
Der blinde Mann mit dem Schäferhund.
Eine böse Ahnung packte Winter. Unmöglich konnte sie noch einen Stalker ertragen, der ihr auflauerte.
«Schicken Sie ihn weg!» Winter verschränkte die Arme und fühlte sich plötzlich unangenehm nackt in ihrem langen T-Shirt. «Ich möchte heute nicht mehr gestört werden.»
«Sind Sie sicher?», fragte Uecker. «Ich meine, er sagt …»
«Es ist mir egal, was er sagt!», stieß Winter hervor. «Er soll verschwinden. Okay?»
Uecker sah sie an. «Ja, Ma’am.»
«Danke.» Erschöpft knallte sie die Tür zu.
Von draußen hörte Winter einen kurzen, erhitzten Wortwechsel. Der Blinde wollte Uecker überreden, ihn doch durchzulassen. Sie verstand nicht jedes Wort, aber erstaunlicherweise klang es, als würde ihr Bodyguard nachgeben. Winter riss die Tür auf und trat auf den Flur hinaus.
«Warum können Sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?», schrie sie den Blinden an. «Hauen Sie ab! Und zwar sofort!»
«Miss Zhi, bitte hören Sie mich doch an!», sagte der blinde Mann und trat zögerlich einen Schritt vor. Einen Moment lang wusste Winter nicht, was sie tun sollte. Die Stimme dieses Mannes hatte so etwas an sich – etwas Hypnotisches, eine beschwörende Eindringlichkeit, der sie sich nicht erwehren konnte. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht sollte sie ihn tatsächlich anhören. Was konnte es schaden …?
Sie verkniff sich den Gedanken. Dieser Irrsinn musste ein Ende haben. Sie musste aufhören, sich auf jeden Fan einzulassen, der etwas von ihr wollte.
«Nein!», sagte sie mit wilder Entschlossenheit in der Stimme. «Hören Sie zu: Lassen Sie mich in Ruhe! Gehen Sie einfach! Und kommen Sie nicht wieder in dieses Hotel. Nie wieder! Hauen Sie ab!»
Der Blinde klappte den Mund auf, doch Winter starrte nur seine toten Augen an, mit geradezu physischer Gewalt, die der Mann irgendwie zu spüren schien. Schließlich ließ er den Kopf hängen.
«Komm, Sascha!» Ohne ein weiteres Wort schlurfte der Mann mit seinem Hund davon.
«Passen Sie auf, dass die beiden sich auf dem Weg nach draußen nicht verlaufen», sagte Winter zu Uecker gewandt, dann ging sie in ihr Zimmer zurück und knallte die Tür zu. Drinnen sank sie zu Boden, sie hatte Tränen in den Augen. Sie weinte fast zehn Minuten lang. Wegen Michael. Wegen ihrer Mutter. Wegen dieses neuen, unheimlichen Stalkers. Und letztlich auch ihretwegen.
Doch als sie die Augen schloss, sah Winter vor ihrem inneren Auge etwas anderes.
Wie eine grelle
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