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Gnosis

Gnosis

Titel: Gnosis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Fawer
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Sonne glühte ihr verlorenes Silberkreuz, und sie wusste, dass ihr Leben ohne dieses Kreuz nie mehr sein würde wie vorher.
    Der Schmerz an ihren Handgelenken ließ Winter die Augen aufschlagen. Blut lief ihr über beide Unterarme.
    Scheiße.
    Unter Schmerzen riss sie sich die verbogenen Akupunkturnadeln aus den Handgelenken. Während sie das Blut abwischte, dachte sie unwillkürlich, dass es vielleicht ein Omen für das war, was noch kommen sollte.
     
    Als Michael Evans das Krankenhaus verließ, hatte er endlich akzeptiert, dass es zwischen ihm und Winter aus war. Nie mehr würde er ihre Porzellanhaut berühren. Nie wieder ihren warmen, weichen Körper. Nie mehr die wundervolle Musik hören, wenn sie sich liebten.
    Als Michael und Winter an ihrem allerersten Abend in der Garderobe Sex gehabt hatten, hörte Michael erstaunliche Klänge. Erst dachte er, es seien die anderen Musiker nebenan, doch als sie sich dann ein zweites Mal liebten, noch im Halbschlaf, hörte Michael wieder denselben, eindringlichen Rhythmus. Als ihre Berührungen intensiver wurden und die Musik noch lauter, merkte er, dass die Glocken nur in seinem Kopf zu hören waren. Doch nicht nur Glocken. Hinter dem triumphalen Läuten hörte er noch andere Klänge. Eine beschwingte Melodie, wie von einer Flöte. Das tiefe, spielerische Spotten eines Saxophons. Die weichen Töne einer fernen Stimme mischten sich mit dem Splittern von Glas, was sehr gut zu der entrückten Melodie passte.
    Als die beiden gleichzeitig zum Orgasmus kamen und zuckten und sich wanden, vereinten sich die gegensätzlichen Töne zu einem überschäumenden klanglichen Höhepunkt, der berauschender war als alles, was er je zuvor erlebt hatte.
    Als sie in seinen Armen eingeschlafen war, wusste Michael, dass er nie mehr zu Felicia zurückkehren würde. Am nächsten Morgen ging er wie ein pflichtschuldiger Ehemann nach Hause und tat so, als liebte er sie noch immer, aber es war nur eine Farce. Nachdem er Winter Zhi geliebt hatte, konnte Michael Evans’ Herz unmöglich einer anderen gehören. Während der folgenden zwei Monate lebte er nur für Winter. Er reiste landauf, landab, besuchte alle Konzerte, verlor sich in ihren himmlischen Soli, hörte nur sie allein, egal in welcher Stadt oder mit welchem Sinfonieorchester sie spielte.
    Und jeden Abend, wenn das Licht im Saal anging und das Publikum – noch völlig entrückt von Winters Musik – zum Ausgang strebte, platzte Michael förmlich vor Stolz, weil die Frau, die das Publikum so tief berührte, ihm gehörte.
    Doch Felicia spürte ihn auf. Er wollte ihr alles erklären, aber sie konnte es nicht begreifen. Darauf wandte sie sich an die Presse. Am nächsten Morgen erschien ihr verheultes Gesicht neben einem Foto, auf dem Winter und Michael Händchen hielten.
    Von da an wollte Winter nichts mehr mit ihm zu tun haben. Ihre Mutter, dieses Biest, erwirkte sogar eine richterliche Verfügung. Michael versuchte, sich mit Felicia auszusöhnen. Doch als sie dann irgendwann auch wieder Sex miteinander hatten, wusste er, dass er nicht mehr bei ihr bleiben konnte. Nach der Ekstase, die er mit Winter erlebt hatte, war der Sex mit seiner Frau, als vögelte er mit einer Leiche. Am nächsten Tag reichte er die Scheidung ein.
    Er hatte gehofft, Winter würde ihn wieder aufnehmen, aber sie weigerte sich. Und als er nun über den vereisten Gehweg lief, fasste Michael einen Entschluss. Wieder in seiner Wohnung, ging er durch das leere Wohnzimmer (Felicia hatte fast alle Möbel mitgenommen). Er öffnete den Schrank und streckte sich nach dem obersten Fach, um auf dem staubigen Brett nach dem alten Adidas- Schuhkarton zu tasten. Er trug ihn zu den Decken, die er zu einer Art Matratze gestapelt hatte, nahm den Deckel ab und holte vorsichtig die glänzende .38er Smith & Wesson heraus, die er darin aufbewahrte.
    Es war schon lange her, seit er zuletzt auf der Schießbahn gewesen war, aber er war unbesorgt. Sein alter Herr war Polizist gewesen und hatte Michael das Schießen beigebracht, als der zehn Jahre alt war. Plötzlich dachte Michael an das erste Mal, als er den mächtigen Schlag gespürt hatte, den diese Waffe tat, wenn er Löcher in menschenförmige Ziele geschossen hatte.
    Allerdings würde ihm das Schießen heute Abend keinen Spaß machen. Denn heute zielte er nicht auf Pappe. Er zielte auf Winter Zhis Herz.

KAPITEL 15
30. DEZEMBER 2007 – 12:08 UHR (35 STUNDEN, 52 MINUTEN BIS ZUR NACHT DES JÜNGSTEN GERICHTS)
     
     
    Die Sonne stand schon hoch

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