Gnosis
Speicheldrüsen an, stimuliert die Magenfunktion, aktiviert den Darm, zieht die Bronchien zusammen und senkt die Pulsfrequenz.»
«Und das enterische Nervensystem?»
«Es reguliert die Magenaktivität.» Elijah stutzte, bemerkte die Ironie, die in dem lag, was er sagen wollte. «Und sorgt dafür, dass einem übel oder unwohl wird, wenn man n-n-nervös ist.»
«Emotionen manifestieren sich also in physischen Reaktionen?»
«Ja.»
«Sind Sie sicher, dass es nicht umgekehrt ist?»
«Verzeihung?», fragte Elijah verwirrt.
«Was war zuerst da: die Henne oder das Ei? Fürchten wir uns, und dann reagiert der Körper? Oder reagiert unser Körper auf externe Stimuli, die unser Gehirn dann als Furcht interpretiert?»
«Ich bin nicht sicher.»
«Doktor … Hodge», sagte der Chefarzt mit einem Blick auf sein Klemmbrett. «Möchten Sie Dr. Glass weiterhelfen?»
«Gern.» Zack Hodge war ein unangenehmer Wichtigtuer. Er lächelte. «Es gibt zwei Theorien der Emotionen. Die erste – aus dem Jahr 1884 – stammt von James Lange, der davon ausging, dass das Gehirn eine Flucht-Reaktion aktiviert und die sich daraus ergebende physische Reaktion in ein Gefühl von Angst übersetzt. Mit anderen Worten: Wir empfinden Angst, weil sich unsere Pulsfrequenz erhöht, sich die Pupillen weiten und so weiter und so fort.
Diese Theorie wurde 1929 durch die Cannon-Baird-Theorie widerlegt, welche erklärte, dass das untere Gehirn emotionenproduzierende Informationen erhält und diese gleichzeitig zur Interpretation an den höheren Kortex und für eine physische Reaktion an das VNS weiterleitet. Mit anderen Worten erhöht sich unsere Pulsfrequenz und weiten sich unsere Pupillen, weil wir Angst haben.
Bislang konnte sich die Medizin noch nicht entscheiden, welche Theorie zutrifft, doch die Mehrheit neigt zur Cannon-Baird-Theorie.»
«Ausgezeichnet», sagte der Chefarzt und warf Elijah einen missbilligenden Blick zu. «Man weiß nur, wohin man geht, wenn man weiß, woher man kommt. Merken Sie sich das, Dr. Glass.»
Elijahs Wangen brannten, als er dem Chefarzt in den engen Fahrstuhl folgte. Dann öffneten sich die Türen, und die fünf angehenden Ärzte hasteten aus dem Fahrstuhl, ängstlich wie Erstsemester. Nur dass sie keine Erstsemester waren, sondern Doktoren. Unerfahren und unfähig, aber dennoch Doktoren.
Jede Krankenhausserie, die er je gesehen hatte, kam Elijah in den Sinn. Emergency Room. Chicago Hope. Chefarzt Dr. Westphall. Gideon’s Crossing. Diagnose: Mord. Greys Anatomy.
Der erste Tag des praktischen Jahres. Er hatte ihn so oft im Fernsehen gesehen. Am Ende triumphierten diejenigen, die so schlau waren, zu wissen, dass sie ihrer Sache nicht sicher sein konnten. Genauso würde es Elijah ergehen. Er musste nur die nächsten siebzehn Stunden überstehen.
«Okay, hören Sie zu», sagte der Chefarzt. «Nur sehr wenige Patienten sind gewalttätig. Sollten Sie allerdings dennoch in eine schwierige Situation geraten, bewahren Sie die Ruhe. Wir haben überall Wachen. Bleiben Sie in der Nähe und passen Sie gut auf. Gehen wir.»
Der Chefarzt klopfte an die dicke Stahltür, und ein untersetzter Schwarzer machte auf. Hinter ihm hörte man eine hysterische Frau schreien.
«Willkommen in der Psychiatrie.»
Elijah presste die zitternde Hand an seine Brust und tastete nach dem Kreuz an seiner Silberkette. Am liebsten wäre er sofort weggelaufen, doch er zwang sich vorwärts. Qualvoll, Schritt für Schritt.
Als er den großen Besucherraum betrat, kam ihm Wie in einem Busbahnhof in den Sinn. Alle warteten. Da waren Besucher, die zu Patienten wollten. Da waren Patienten, die auf Besuch warteten. Und selbst die Patienten, die bei ihren Familien saßen und taten, als wäre alles in Ordnung, warteten.
Sie warteten darauf, rauszukommen. Gesund zu werden.
Die Patienten trugen übergroße Pyjamas, in denen selbst Bikinimodels geschlechtslos ausgesehen hätten. Ihre Gesichter waren sauber, aber sie wirkten müde und ausgemergelt, das Haar war stumpf und ungewaschen.
Als Elijahs Trupp vorüberging, blickten einige mit toten, seelenlosen Augen auf. Das einzige Gefühl, das Elijah spüren konnte, war leises Flehen.
Bitte tut mir nicht weh. Bitte macht mich normal. Bitte lasst mich gehen.
«Elijah», zischte eine Frauenstimme. «Komm schon!»
Elijah riss sich von einem traurigen Patienten los und sah Alex in der Tür stehen. Die hübsche Kommilitonin neigte ungeduldig den Kopf. Elijah merkte, dass die Gruppe bereits wieder draußen
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