Gnosis
war ein Mensch. Aber das ist unerheblich – Fakt bleibt, dass du Empathiker bist. Es ist, als hätte das, was in deinem Gehirn Empathie auslöst, einen Turbolader. Du hast bei deinem Medizinstudium nicht zufällig gelernt, wie Empathie funktioniert, oder?»
«Spiegelneuronen.»
«Nie gehört.»
«Aber du weißt, was Neuronen sind, ja?»
Stevie schüttelte den Kopf.
«‹Neuronen› ist ein schickes Wort für ‹Nervenzellen›. Sie kommunizieren, indem sie elektrische Impulse generieren. Du hast ungefähr 100 Milliarden davon in deinem Gehirn.»
«Cool.»
«Es gibt drei Grundtypen. Afferente Nervenbahnen übermitteln Informationen von Gewebe und Organen an das Gehirn. Efferente Nervenbahnen leiten Informationen weiter und übertragen Signale vom Gehirn. Interneuronen bieten Verbindungen überall im Gehirn und im zentralen Nervensystem.»
«Kapiert.»
«Okay. Also, 1996 haben zwei italienische Wissenschaftler namens Giacomo Rizzolatti und Leonardo Fogassi die motorischen Nervenzellen eines Affen untersucht. Irgendwann hat Fogassi eine Banane in die Hand genommen, und Rizzolatti fiel auf, dass ein Neuronenverbund im prämotorischen Kortex des Affen reagierte – obwohl sich der Affe nicht bewegte. Normalerweise arbeiten Neuronen nur, wenn eine Handlung ausgeführt wird, aber diese Neuronen reagierten sogar, wenn der Affe etwas nur sah. Es war egal, ob der Affe selbst eine Banane in die Hand nahm oder nur zusah, wie jemand anders eine Banane nahm – die Zellen reagierten auf dieselbe Weise. Rizzolatti nannte diese Zellklumpen ‹Spiegelneuronen›.»
«Lass mich raten», sagte Stevie. «Diese Spiegelneuronen ahmen auch Gefühle nach.»
«Genau», sagte Elijah. «Wenn wir mit jemandem kommunizieren, sehen wir nicht einfach zu, was der andere tut. Wir schaffen interne Entsprechungen seines Handelns, seiner Empfindungen in uns selbst, als wären wir diejenigen, die sich bewegen, die fühlen und empfinden.»
«Astreine Nachäffer», sagte Stevie.
«Du sagst es. Spiegelneuronen ermöglichen es uns, komplizierte Bewegungen wie das Schwingen eines Golfschlägers zu erlernen, indem wir jemandem dabei zusehen. Außerdem übermitteln sie Empfindungen, weshalb wir zusammenzucken, wenn ein Sportler gefoult wird – weil unsere Spiegelneuronen das Gefühl vermitteln, wir würden selbst getreten.»
«Oder wenn man sich einen Porno ansieht …»
«Exakt», unterbrach Elijah ihn eilig. «Jedenfalls glauben Wissenschaftler, dass uns die Menge der Spiegelneuronen im menschlichen Gehirn von anderen Tieren unterscheidet, weil sie uns das Lernen ermöglicht: Werkzeuge zu benutzen, Sprache zu verstehen …» Elijah machte eine Pause. «Und empathisch zu empfinden.»
«Du meinst also, du fühlst, was ich fühle, weil deine Spiegelneuronen den Turbo angestellt haben?»
Elijah dachte kurz nach, dann schüttelte er den Kopf. «Unmöglich.»
«Wieso das?»
«Spiegelneuronen lösen Gefühle durch Wahrnehmung aus. Aber in der U-Bahn habe ich mit keinem meiner fünf Sinne wahrgenommen, dass du Hunger hattest. Ich habe den Hunger gespürt, bevor ich dich überhaupt gesehen hatte.»
«Wie gesagt: Drahtlosübertragung.»
«Nie im Leben. Das Gehirn ist so unorganisiert, dass es an ein Wunder grenzt, dass wir überhaupt unsere eigenen Gefühle wahrnehmen, von denen anderer ganz zu schweigen.»
«Hm?»
«Schon mal vom Problem der Bindung gehört?»
«An dem Tag muss ich wohl gefehlt haben.»
«Das Problem der Bindung stellt die Frage, wie unsere bewusste Wahrnehmung abläuft, da die Wissenschaft keine Ahnung hat, wie die Aktivitäten verschiedener Neuronentrauben zusammenwirken, um ein integriertes Perzeptibilitätserlebnis zu bilden.»
«Integriertes was?»
Elijah seufzte. «Okay, hör zu: Menschen verarbeiten Farbe, Bewegung und Form in drei verschiedenen Bereichen der Sehrinde. Wenn wir also einen weißen Tiger durch einen roten Reifen springen sehen, zeigen einige Neuronen das Vorhandensein von Weiß an, andere das Vorhandensein von Rot, wieder andere den springenden Tiger. Die Frage ist: Wie stimmt das Gehirn die Daten aufeinander ab, um erkennen zu können, dass der Tiger weiß ist und springt, der Reifen aber rot und unbeweglich ist?»
«Ich dachte, die Neuronen reden miteinander.»
«Das ist genau der Punkt. Wissenschaftler konnten bisher keinerlei Kommunikation zwischen den Neuronen der Sehrinde feststellen. Außerdem passiert alles gleichzeitig. Und das illustriert das Problem der Bindung nur allein innerhalb des
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