Godspeed Bd. 1 - Die Reise beginnt
Herz bis zum Hals. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn, und meine Finger berühren den Dra-Kom-Knopf, den ich hastig drücke.
»Kom-Verbindung: Harley«, schnaufe ich und mache mich auf den Weg zur Luke.
Biep, biep-biep. Mein Herz pocht. Wenn er nicht antwortet, werde ich zurückgehen, mir einen Floppy holen, ihn orten und –
»Was?« Harleys Stimme klingt ungeduldig und mürrisch.
»Wo bist du?«, schreie ich.
»Auf dem Kryo-Deck.«
»Da bin ich auch. Wo steckst du?«
»An der Luke.«
Ich seufze erleichtert auf. Wo sollte er auch sonst sein. Als ich den Gang hinunterrenne, sehe ich ihn auch schon, wie er sein Gesicht gegen das Glas des Bullauges drückt.
»Was machst du da?«, rufe ich. »Warum bist du nicht da hinten und bewachst sie?«
»Du hast mich den ganzen Tag hier hocken lassen!«, mault Harley zurück. »Mir war langweilig !«
»Amys Eltern sind hier und all die anderen hilflosen Leute, und ich habe dich darum gebeten, auf sie aufzupassen. Oder war das zu viel verlangt?«
Harley mustert mich mit zusammengekniffenen Augen. »Bilde dir keine Schwachheiten ein«, sagt er. »Nur weil du irgendwann Ältester sein wirst, heißt das nicht, dass du mich rumschubsen kannst.«
»Komm mir nicht so. Wie lange hast du Wache gehalten, bis du hergekommen bist, um dir die Sterne anzusehen? Hast du überhaupt Wache gehalten? Hast du wenigstens nachgesehen, ob da irgendwo irgendwelche tauenden Körper herumliegen, bevor du ihnen den Rücken zugewandt hast? Wenn ich mich recht erinnere, ist der letzte Typ während deiner ›Wache‹ gestorben.«
Harley stürzt sich auf mich, packt mich mit beiden Händen am Kragen und stößt mich gegen die Wand. »Wie lange hast du sie vor mir verheimlicht? Wann hat der Älteste sie dir zum ersten Mal gezeigt?«
»Was? Die Sterne?«
»Die Sterne, die Sterne, natürlich, die Sterne!«
»Ich habe sie vor ein paar Tagen das erste Mal gesehen.«
»Du lügst!« Harley drückt mich noch fester gegen die Wand. Ich versuche, mich aus seinem Griff zu befreien, aber obwohl meine Fingernägel seine Hände zerkratzen, lässt er nicht los. »Du und der Älteste, immer so dicht zusammen.«
»Als hätte ich eine Wahl!«
»Wenn sie die Sterne gesehen hätte, wäre sie vielleicht noch am Leben!«, schreit mir Harley wutentbrannt ins Gesicht – aber in seinen Augen glitzern Tränen.
»Wovon redest du – wer?« Ich versuche zu begreifen, was los ist.
»Kayleigh!«, stößt Harley traurig hervor. Er lässt mich abrupt los. »Kayleigh. Wenn sie die Sterne gesehen hätte, hätte sie vielleicht nicht aufgegeben.«
Harley kehrt zur Tür zurück, legt beide Hände dagegen und drückt das Gesicht ans Bullauge.
»Nicht gut, nicht gut«, murmelt er.
»Was ist nicht gut?« Meine Stimme ist jetzt ganz ruhig. Ich muss wieder daran denken, wie Doc Harley wochenlang eingesperrt hat, weil er sicher war, dass Harley versuchen würde, Kayleigh in den Tod zu folgen. Wie genau die Schwestern seine Medis überwachen, wie Doc immer darauf achtet, dass er die zusätzlichen Pillen nimmt.
»Harley, warum kommst du nicht mit mir? Ich werde die Nacht hier unten verbringen. Geh du in dein Zimmer und ruh dich aus.«
»Du willst doch nur alles für dich allein haben!«, faucht Harley.
»Was? Nein!«
Er scheint sich zu beruhigen. »Ich weiß, ich weiß. Du bist mein Freund. Ich weiß.« Er dreht sich wieder zum Bullauge um. »Aber es nützt trotzdem nichts. Es hat keinen Sinn.«
»Was hat keinen Sinn?«
»Es ist egal, wie lange ich nach draußen starre. Wir werden nie landen, nicht wahr? Wir werden dieses Schiff nie verlassen. Wir werden in diesem Metallkäfig leben und sterben. 74 und 263. Zu lange … zu lange … Näher als jetzt werde ich der Außenwelt nie kommen, richtig?«
Ich will ihm sagen, dass es nicht so ist, dass er sich irrt, aber das wäre gelogen. Aber wenigstens verstehe ich jetzt nur zu gut, wieso der Älteste die Menschen anlügt und sie ihre Kinder in der Hoffnung auf die Landung großziehen lässt. Wenn wir diese Hoffnung nicht haben, wofür leben wir dann noch? Spielt es eine Rolle, ob es eine Lüge ist, die uns am Leben erhält? Seit er die Hoffnung auf eine Landung auf dem neuen Planeten verloren hat, ist Harley nicht mehr der Alte.
Er ist auf den Boden gesunken. Dort steht eine Leinwand, aber sie ist mit einem Tuch verhüllt, und ich bringe es nicht fertig, ihn zu fragen, was er gemalt hat. Stattdessen lasse ich ihn dort sitzen, so dicht an der Freiheit, wie es nur
Weitere Kostenlose Bücher