Godspeed Bd. 1 - Die Reise beginnt
selbst. »Sie betäuben die Menschen«, wispere ich.
»Die meisten.« Er zuckt mit den Schultern.
»Warum?«
»Die Medizin bewirkt Wunder«, sagt der Doktor und drückt den Infusionsbeutel zusammen. »Wenn es ein Problem gibt, kann die Medizin es lösen. Selbst wenn es eine ganze Gesellschaft betrifft.«
»Sie sind eine Bestie«, werfe ich ihm an den Kopf, und mir wird erst jetzt klar, was auf diesem Schiff wirklich vorgeht.
»Ich bin nur Realist.«
Ich greife nach Steelas Hand. Sie ist kalt und leblos.
»Was geschieht mit ihr?« Ich lasse ihre Hand los und trete angewidert zurück.
Der Doktor achtet weder auf mich noch auf seine Patientin, denn er ist ganz mit der Infusion beschäftigt. »Das sagte ich doch: Phydus verursacht Passivität.«
»Und was bedeutet das?«, schreie ich und merke selbst, wie panisch meine Stimme klingt.
»Passivität? Es macht sie ruhig. Friedlich. Passiv eben.«
»Aber sie bewegt sich nicht!« Meine Stimme wird immer lauter. »Sie blinzelt nicht einmal! Sie starrt nur geradeaus!«
Der Doktor schaut verblüfft auf. Meine Aufgeregtheit scheint ihn zu erstaunen. »Siehst du denn nicht, dass Steela – und alle anderen hier – nicht länger nützlich sind? Sie und die anderen Grauen sind körperlich nicht mehr belastbar; sie können nicht mehr arbeiten wie die jüngeren Generationen. Und auch ihre geistigen Fähigkeiten lassen stark nach – die langfristige Einnahme von Phydus beeinflusst das Gehirn, auch bei denen, die Psycho-Pillen nehmen, wie Steela es getan hat. Ihre Neuronen haben Aussetzer, und entweder können sie nicht mehr unterscheiden, was real ist und was nicht, oder sie werden rebellisch, weil die Wirkung der Droge nachlässt. In jedem Fall sind sie nur noch eine Belastung für unsere Gesellschaft. Also nehmen wir von ihnen, was wir können.« Er deutet auf den Beutel mit Steelas Blut. »Ihre DNA enthält besonders scharfe Wahrnehmung und Intelligenz; vielleicht können wir sie wiederverwenden. Und wenn wir von den Grauen alles genommen haben, was wir brauchen können, lassen wir sie schlafen.«
Steela sieht nicht aus, als würde sie schlafen. Sie sieht tot aus.
»Sie töten sie?«, flüstere ich entsetzt.
Der Doktor zuckt mit den Schultern. »Technisch gesehen.«
»Technisch gesehen?« , kreische ich. »Entweder sterben sie oder nicht – da gibt es keine Grauzone!«
»Wir leben hier in einem geschlossenen System«, sagt der Doktor. »Das Schiff muss sich selbst erhalten.« Sein Blick wandert von Steela zu mir. »Wir brauchen Dünger.«
Ich würge die Galle herunter, die in meiner Kehle aufsteigt.
»Nehmen Sie das weg!«, kreische ich und will mich auf die Infusion stürzen.
»Es ist zu spät. Die Droge ist schon in ihrem System.«
Trotzdem reiße ich die Nadel aus Steelas Arm, aber ich muss erkennen, dass der Doktor nicht gelogen hat. Aus der Nadelspitze sickert ein kleiner Tropfen Blut, sonst nichts. Der Beutel ist leer. Steelas Arm ist zur Seite über die Bettkante gefallen, aber sie merkt es nicht mal.
»Amy«, sagt der Doktor, »ich erzähle dir das, weil du begreifen musst, wie die Realität auf diesem Schiff aussieht. Ich habe gesehen, wie du den Ältesten infrage gestellt hast; habe dich mit Junior sprechen hören. Du solltest wissen, wie gefährlich es ist, Ärger zu machen und es dir mit dem Ältesten zu verderben. Die Außenluke ist nicht der einzige Weg, auf dem der Älteste dich loswerden kann. Er ist gefährlich, Amy, sehr gefährlich, und du solltest ihm in Zukunft aus dem Weg gehen.«
Er seufzt, und ich frage mich zum ersten Mal, ob er womöglich so etwas wie Mitgefühl für seine Patienten empfindet. »Als Junior dich zu mir gebracht hat, wusste ich, dass du unter der Wirkung von Phydus gelitten hast. Der Älteste und ich sind dafür verantwortlich, dass Phydus überall an Bord verteilt wird. Das ist unsere Pflicht. Aber obwohl ich überzeugt bin, dass Phydus den Frieden auf der Godspeed bewahrt, bin ich der Meinung, dass es nicht für jeden angebracht ist.« Er sieht mir direkt ins Gesicht. »Aber wenn du Ärger machst, wird der Älteste mich anweisen, dich hierher in den vierten Stock zu bringen. Und ich werde dir diese Nadeln in den Arm stechen. Und du wirst zum ersten Mal seit Langem ein Gefühl von Wärme, Behaglichkeit und Freude verspüren.«
Sein Blick wandert zu Steela und auch ich schaue zu ihr. Ein winziges Lächeln umspielt ihre runzligen Lippen. »Wenn Phydus deinen Geist beruhigt hat, wird es deinen Körper beruhigen.
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