Godspeed Bd. 1 - Die Reise beginnt
Grenzpfosten, den ich nicht passieren will, also setze ich mich wieder hin.
»Hast du nun irgendwelche Hobbys oder Fähigkeiten, die du auf dem Schiff nutzen kannst?«
Hobbys? Hobbys sind etwas für neunzigjährige Opas, die in der Garage herumbasteln.
»In der Schule mochte ich Geschichte«, sage ich schließlich, obwohl es mir peinlich ist, als Erstes an die Schule zu denken.
»Hier gibt es keine Schule. Jedenfalls zurzeit nicht. Außerdem ist das Leben, das du geführt hast, nun ja …«
Ich verstehe, was er meint. Mein Leben, mein ehemaliges Leben, ist längst Geschichte. Wie wird es sein, die Dinge, die ich gemocht und erlebt habe, in einem Geschichtsbuch zu finden? Und wenn ich es durchblättere und jemanden erkenne? Wenn ich mich selbst in einem Geschichtswälzer finde, der älter ist als ich?
»Ich war im Geländelauf-Team«, sage ich. Der Doktor sieht mich verständnislos an. Mir wird klar, dass ihm der Ausdruck »Geländelauf« nichts sagt, hier auf dem Schiff, wo es kein Gelände zum Laufen gibt. »Ich bin gerannt. Es ist eine Sportart, bei der man rennt.«
Der Doktor sieht skeptisch aus. »Du kannst natürlich ›rennen‹, wann immer du willst. Aber …« Er mustert mich. »… es ist nicht unbedingt ratsam. Du wirst an Bord dieses Schiffs auffallen … Ich kann nicht für deine Sicherheit garantieren, wenn du das Krankenhaus verlässt.«
Mein Magen krampft sich zusammen. Was für Leute leben hier? Und was meint er mit »Sicherheit«? Glaubt er, dass sie mich angreifen würden?
Der Doktor scheint nicht zu merken, wie beunruhigt ich bin. »Welche anderen Aktivitäten kommen noch infrage?«
»Ich habe am Jahrbuch mitgearbeitet und ich fotografiere gern«, sage ich, immer noch ein wenig abgelenkt von der Vorstellung, was mir wohl passieren wird, sobald ich nach draußen gehe.
»Hmm«, macht der Doktor missbilligend. »Das Fotografieren ist auf dem Schiff nicht gestattet – nur zu Forschungszwecken.«
Obwohl ich fest entschlossen bin, diesem Doktor zu beweisen, dass ich auch ohne Medikamente ruhig bleiben kann, gelingt es mir nicht, meinen Unglauben zu verbergen. »Ist das Ihr Ernst? Das Fotografieren ist verboten?«
»Welche anderen Aktivitäten machen dir Freude?«, will er wissen, ohne auf meine Frage einzugehen.
»Was weiß ich«, sage ich mürrisch und hebe die Hände. »Was machen denn die anderen Teenager hier? Clubs? Partys?«
»Hier gibt es keine Schule oder Partys oder etwas in der Art«, sagt der Doktor langsam, »weil es keine Kinder an Bord des Schiffs gibt. Jedenfalls zurzeit nicht.«
»Was?« Ich beuge mich vor, als würde mir das helfen, ihn besser zu verstehen.
Hinter mir geht die Tür auf.
Der Doktor steht auf, um den Mann zu begrüßen, der ohne zu klopfen hereinkommt. Er ist alt und humpelt ein bisschen.
»Das ist Amy.« Der Doktor sagt meinen Namen, als wüsste er nicht, wie man ihn ausspricht, obwohl er doch nur aus drei Buchstaben besteht.
»Offensichtlich«, erwidert der Mann. Er bleibt stehen und sieht verächtlich auf mich herab. »Sag mir, was du über die Godspeed weißt.«
»Ist das der Name dieses Schiffs?«
Er nickt ungeduldig.
»Bevor ich eingefroren wurde, nannten sie es Projekt Arche. Ich weiß nur, dass ich an Bord bin. Wir steuern einen Planeten im Zentauri-System an, den die NASA ein paar Jahre vor meiner Geburt entdeckt hat. Es ist ein Generationen-Schiff – alle Bewohner wurden auf dem Schiff geboren und halten es am Laufen, bis wir da sind und meine Eltern und die übrigen eingefrorenen Leute bei der Besiedelung des neuen Planeten helfen können.«
Der Mann nickt. »Das ist alles, was du über die Godspeed wissen musst«, sagt er. »Allerdings solltest du auch noch wissen, dass ich der Älteste bin.«
Schön für dich , denke ich. Gratuliere zum Alt-Sein.
Er hält mein Schweigen für das Zeichen fortzufahren. »Dieses Schiff braucht keinen Kapitän. Seine Route wurde vor langer Zeit festgelegt, und es ist so programmiert, dass es ohne menschliche Einwirkung auskommt. Aber auch wenn das Schiff keine Führung benötigt, brauchen die Menschen sie. Ich bin der Älteste. Ich bin ihr Anführer.« Der alte Mann nimmt einen Briefbeschwerer vom Schreibtisch des Doktors. Er betrachtet ihn, als hielte er die ganze Welt in seinen Händen, und ich begreife, dass die Welt für ihn dieses Schiff ist.
»Okay.«
»Und das bedeutet, dass jeder meine Anweisungen befolgt.«
»Schön.«
»Du eingeschlossen.«
»Von mir aus.«
Der Älteste funkelt
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