Godspeed Bd. 1 - Die Reise beginnt
was immer es ist, ich verstehe es nicht. Mit einem Seufzer konzentriert sich Orion wieder auf seinen Floppy. »Diese Reime von der Sol-Erde sind wirklich faszinierend.« Er tippt auf den Schirm und scrollt durch verschiedene Texte.
»Du solltest vorsichtig sein. Wenn der Älteste herausfindet, dass du Victria die Sol-Erde-Bücher gegeben hast … Du bist Archivar. Du weißt, dass die antiken Bücher das Archiv nicht verlassen und auch nicht in die Hände der Versorger fallen dürfen.« Ich linse über seine Schulter und versuche rauszukriegen, was er gerade liest. »Was ist das?«
Orion hält mir den Floppy hin und ich schaue auf die Zeichnung eines geflügelten Mannes mit drei Gesichtern. »Es ist eine Geschichte über die Hölle. Ihre untere Schicht besteht komplett aus Eis.«
Mein Blick durchdringt Orion.
»Oh, du fragst dich, woher ich das weiß?«, sagt er. »Keine Sorge. Ich habe Zugang zu allem.«
Etwas an der selbstverständlichen Art, wie er das sagt, macht mich stutzig. »Was weißt du?«, frage ich so leise, dass es die anderen im Gemeinschaftsraum nicht mitbekommen. Orion war es, der mir die Blaupausen gezeigt hat, die mich zu Amy geführt haben. Und jetzt spricht er von höllischem Eis.
Orion rückt näher. Zu nah. Ich trete einen Schritt zurück, aber er beugt sich vor und sein Gesicht ist ganz dicht an meinem. »Was weißt du ?«, fragt er. »Weißt du eigentlich, dass du in mir einen Freund hast?«
49
Amy
Als ich wieder in meinem Zimmer bin, drücke ich als Erstes den Knopf, der das Fenster schließt. Das macht den Raum dämmrig. Gut. Ich will Dunkelheit.
Jemand klopft an meine Tür.
Ich ignoriere es. Mit wem auf diesem Schiff sollte ich auch reden wollen?
»Amy?«, ruft Harley. »Ich habe dich reinkommen sehen und wollte wissen, wie es dir geht.«
»Mir geht’s gut«, rufe ich durch die Tür.
»Nein, tut es nicht. Mach die Tür auf.«
»Nein.«
»Doc hat den Generalcode. Wenn es sein muss, werde ich ihn herholen.«
Ich springe auf und drücke auf den Knopf, der die Tür öffnet. Der Doktor ist der Letzte, den ich jemals wieder sehen will.
Harley kommt herein und sieht sich im Zimmer um.
»Was ist?«, frage ich.
»Nichts. Ich dachte nur … dass jemand bei dir ist.«
Ich schnaube verächtlich. »Wer denn?«
»Ich dachte, dass Junior vielleicht hier ist.«
»Wieso sollte er mich sehen wollen?« Ich setze mich aufs Bett.
»Weil er dich mag.«
Ich mustere Harley, aber er scheint es tatsächlich ernst zu meinen. »Ich glaube nicht, dass hier überhaupt jemand einen anderen mag.« Jedenfalls nicht auf normale Art und Weise.
»Wieso sagst du so was?« Er sieht überrascht aus.
»Hast du die Männer gestern nicht gesehen? Das war kein ›mögen‹! Das war … und gerade eben …« Ich verstumme, denn ich will nicht über Filomina reden.
»Was gestern passiert ist, tut mir leid«, versichert mir Harley, und ich spüre, dass es ehrlich gemeint ist. »Aber die Paarungszeit ist vorbei und es wird nicht wieder vorkommen. Aber was war heute los?«, fügt er hinzu. »Wo warst du?«
»Im zweiten Stock.« Harley wartet, dass ich weiterspreche. »Die Frauen da …«
»Ach, ja!« Harley lächelt. »Die Bauersfrauen! Sie hatten ihre Untersuchungen.«
»Die waren gruselig.«
»Ach, nein, die sind doch ganz normal.« Seine Wortwahl lässt mich schaudern.
»Die sind nicht normal«, fahre ich ihn an. » Normale Leute verhalten sich nicht so. Menschen sind keine willenlosen Drohnen!«
Harley schüttelt den Kopf. »Das sagst du nur, weil du seit dem Auftauen auf der Station gelebt hast. Wir sind es, die nicht normal sind. Menschen sollen gehorsam und ruhig sein und zusammenarbeiten. Wir dagegen können uns nicht konzentrieren, können nicht zusammenarbeiten, können keine Versorgertätigkeiten oder technische Arbeiten übernehmen, denn wir sind es, die nicht normal sind. Wir sind es, die Psycho-Pillen nehmen müssen, um nicht vollkommen verrückt zu werden.«
Ich starre ihn an. Ich habe keine Ahnung, was hier passiert, aber hier ist alles total verdreht. Die normalen Leute gelten als »verrückt«, während die, die nicht mehr in der Lage sind, eigenständig zu denken, als »normal« angesehen werden. Und die Paarungszeit … Luthes höhnischer Blick taucht in meiner Erinnerung auf, und ich muss schlucken, um mich nicht zu übergeben.
»Haben die Leute hier gar keine Gefühle?«, frage ich schließlich.
»Doch, klar. Nimm mich zum Beispiel. Ich habe Hunger. Kommst du mit in die
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