Godspeed Bd. 2 - Die Suche
es kaum abschließbare Türen –, aber wenn ich mich hier eine Weile verstecke, vergisst das Volk in der Eingangshalle vielleicht seinen Ärger und damit auch mich.
Die Literatur-Abteilung ist die kleinste hier im Erdgeschoss; offensichtlich fanden die Erbauer des Schiffs Geschichte und Wissenschaft wichtiger als Romane. Ich wünschte, es würde mehr aussehen wie in unserer Bücherei zu Hause, mit flauschigen Beanbags zum Sitzen, einem dunklen Teppich, Postern von berühmten Autoren an den Wänden und kleinen Fenstern, die das Sonnenlicht nur gefiltert hereinlassen. Aber der Literatursaal sieht aus wie alles andere an Bord – kalt, steril und viel zu sauber. Wie ein Krankenhauszimmer mit Büchern statt mit Betten: weiß gefliester Boden, weiße Wandverkleidungen und kleine Metalltische.
Doch obwohl der Raum blitzblank ist, verbreiten die Bücher einen Geruch nach Staub und altem Papier. Hier ist alles alphabetisch sortiert, unabhängig vom Thema. Chaucer steht neben Agatha Christie; J.K. Rowling neben Dr. Seuss und neben Shakespeare. Am Ende der ersten Regalreihe schaue ich in die nächste, aber hier kann ich nichts entziffern. Manche Buchtitel sind in Sprachen geschrieben, die ich nur erraten kann – Französisch, Deutsch, Spanisch –, andere kann ich nicht mal ansatzweise entziffern – Chinesisch? Koreanisch? Japanisch?
Ich könnte mich hier eine Ewigkeit aufhalten, aber ich wollte eigentlich nachsehen, ob mir Orion mit dem Satz auf meiner Dra-Kom wirklich einen Hinweis hinterlassen hat, dem es sich zu folgen lohnt. Also wandere ich nicht länger zwischen Märchen und Poesie (Grimm und Goethe) herum, sondern kehre zur ersten Regalreihe zurück und lasse meine Fingerspitze über die Buchrücken gleiten. Mein Blick huscht über die Titel – Des Pilgers Reise , Das große Spiel, Die Mausefalle – bis ich schließlich finde, wonach ich gesucht habe.
Inferno, Band I der Göttlichen Komödie, von Dante Alighieri, das neben einem schmalen Bändchen mit Shakespeare-Sonetten steht. Was für eine Ironie – ein Buch mit Liebesgedichten neben einem, das von der Hölle handelt. Ich ziehe den Gedichtband heraus und lege ihn auf den Metalltisch nahe der Tür, damit er bei den Autoren mit S eingestellt werden kann, wo er hingehört. Dann hake ich einen Finger hinter den Rücken von Dantes Inferno .
Allein der Titel erinnert mich an die Zeit in Mrs Parkers Englischkurs. Ich spüre die harte Sitzfläche von meinem Stuhl und muss wieder daran denken, wie ich bei der Arbeit an unserem gemeinsamen Abschlussreferat mit Ryan und Mike gekichert habe.
Schon witzig, wie mich ein Buch über die Hölle an zu Hause erinnert.
Als ich Inferno aus dem Regal ziehe, fällt etwas heraus und schwebt zu Boden. Ich hebe es auf – es ist ein rechteckiges Stück Plastik, so dünn wie Papier und etwa so groß wie meine Handfläche. Es fühlt sich so ähnlich an wie ein Floppy, ist aber kleiner, und in einer Ecke ist eine fingernagelgroße Erhebung aus Hartplastik. Ich stecke es in die Tasche; Junior wird sicher wissen, was es ist. Ich richte mich wieder auf und greife erneut nach dem Dante-Buch.
Die Tür zischt auf. Ich erhasche einen Blick auf das panische Gesicht einer Frau – ihre Augen sind vor Angst weit aufgerissen. Sie rast an mir vorbei und wirft sich hinter das letzte Regal in die Ecke.
Ich renne zu ihr und sinke neben ihrem zitternden Körper auf die Knie. »Was ist los?«, frage ich und strecke ihr die Hand hin. Jetzt, wo ich sie zum ersten Mal richtig ansehen kann, erkenne ich sie: Es ist Victria, die Freundin von Harley und Junior. Ich glaube, mich zu erinnern, dass sie das Mädchen ist, das Geschichten schreibt. Als ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe, habe ich ihr erzählt, dass der Himmel auf der Erde niemals endet, und sie hat mir ins Gesicht gespuckt und mich vor allen anderen als Lügnerin beschimpft.
Jetzt zieht sie ihre Hand weg. Ihr Gesicht und ihre Arme sind schweißnass und sie ist völlig außer Atem. »Luthe – Luthor. Er ist …«
Er.
Mir wird schlecht.
Er war es, der mich vor drei Monaten festgehalten und die Paarungszeit als Ausrede für den Versuch genutzt hat, mich zu vergewaltigen. Er hat genau gewusst, was um ihn herum vorging, weil auch sein Verstand nicht von Phydus vernebelt war. Er wusste, was er tat, als er mich zu Boden warf und seinen Körper auf meinen presste. Als er zugesehen hat, wie die Hoffnung aus meinen Augen wich und ich aufhörte, mich zu wehren.
Er hat gesagt,
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