Godspeed Bd. 2 - Die Suche
anderen auf dem Schiff nicht sagen. Ich kann es nicht. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich jemals in dem Lügengeflecht verfangen würde, das der Älteste um die Godspeed gewoben hat … aber ich kann es ihnen unmöglich sagen. Ich kann ihnen nicht sagen, dass wir nicht einfach nur langsam fliegen. Dass wir uns gar nicht bewegen. Wenn schon der Phydus-Entzug die Leute veranlasst, über das Floppy-Netzwerk den Aufstand zu proben, werden sie garantiert rebellieren, wenn ich ihnen sage, dass wir nirgendwohin fliegen; sie werden alles kurz und klein schlagen und sich von der Schwärze des Alls verschlingen lassen.
Genau wie Harley.
Ich fahre mir den Fingern durchs Haar und merke, wie verfilzt es ist. Was mache ich hier eigentlich?
Der Älteste hat vielleicht geahnt, dass wir stillstehen, aber es ist ja nicht so, als hätte er das Geheimnis zur Wiederherstellung des Antriebs in seinem Schlafzimmer versteckt.
Ein Floppy auf dem Schreibtisch des Ältesten fängt an zu blinken. Die grellweißen Buchstaben verblassen, bis sie ganz schwarz sind. Der Floppy piept und startet neu. Einen Moment später ist wieder das gewohnte Startmenü zu sehen. Was immer Marae und ihr Team gemacht haben, es hat funktioniert, und die Botschaft des Hackers ist verschwunden.
Meine Dra-Kom meldet sich erneut.
Gerade will ich auf den Ruf reagieren, da fällt mir etwas auf – eine weitere Tür. Ich schalte das Piepen in meinem Ohr ab und steige über die schmutzige Kleidung des Ältesten, um zu der Tür zu gelangen. Wohin führt sie? Es gibt natürlich eine Tür zum Badezimmer, aber diese ist mir bisher nie aufgefallen. Allerdings war ich auch nur zweimal im Zimmer des Ältesten und beide Male habe ich gezielt etwas gesucht: einmal das Modell des Antriebs und beim zweiten Mal Alkohol.
Halbkreisförmige Kratzer auf dem Fußboden beweisen, dass der Älteste diese Tür oft benutzt hat. Mit zitternden Händen greife ich nach dem altmodischen Türknauf – er ist aus Metall von der Sol-Erde. Er lässt sich zwar nicht drehen, aber als ich an ihm ziehe, geht die Tür auch so auf. Ich sehe neugierig hinein.
Es ist ein Wandschrank.
Die meisten Räume haben normale Kleiderschränke, aber ich muss gestehen, dass ich mir etwas Aufregenderes erhofft habe. Enttäuscht wende ich mich ab. Dabei fällt mir etwas auf. Aus einer der Schachteln auf dem Boden des Schranks hängt etwas heraus. Es hat eine merkwürdig grünlich blaue Farbe, an die ich mich dunkel erinnere.
Ich hole tief Luft und vergesse das Ausatmen. Mit tauben Fingern ziehe ich den Stofffetzen aus dem Karton.
Als ich aufs Regentendeck zog, war unter meinen wenigen Besitztümern auch eine Decke. Klein, fleckig und an manchen Stellen bereits fadenscheinig. In einem speziellen grünlichen Blau.
Diese Decke war die einzige Sache, die mir gehörte. Zu jener Zeit habe ich noch geglaubt, dass sie von meinen Eltern stammt. Als Junior durfte ich nicht erfahren, wer sie waren, weil ich ihnen gegenüber nicht voreingenommen sein sollte. Zumindest hat mir der Älteste das gesagt. Tatsächlich aber bin ich ein Klon. Ich wurde erzeugt, nicht geboren.
Bis ich zwölf war, hat mich der Älteste von einer Familie zur nächsten gereicht – ich war sechs Monate bei den Schäfern, sechs Monate bei den Schlachtern, sechs Monate bei den Sojafarmern.
Und durch die ständigen Umzüge wusste ich nie, welche Familie wirklich zu mir gehörte.
Aber die Decke gehörte mir ganz allein.
Meine früheste Erinnerung ist, wie ich mich unter ihr versteckt habe, als es hieß, dass ich wieder umziehen müsse. Ich weiß nicht mehr, bei welcher Familie ich gerade gelebt habe oder zu welcher ich ziehen sollte, aber ich weiß noch, wie ich unter dieser Decke gekauert und mir vorgestellt habe, dass mich meine Mutter – meine richtige Mutter – vielleicht als Baby darin eingewickelt und in ihren Armen gehalten hat.
Nach den ersten Tagen auf dem Regentendeck hatten der Älteste und ich einen heftigen Streit, in dessen Verlauf er mich als verzogenes Kind und als Baby bezeichnete. Ich bin daraufhin in mein Zimmer gestürmt, habe gegen die Wände geschlagen und alles von den Regalen gefegt – und dann fiel mein Blick auf die Decke. Das Sinnbild meiner Babyzeit.
Ich habe versucht, sie zu zerreißen, aber es ging nicht, und so habe ich sie in den Müllschacht geworfen.
Und irgendwie hat der Älteste sie für mich gerettet. Sie jahrelang aufgehoben. Jetzt drücke ich sie mir ans Gesicht und denke an den Ältesten.
Das
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