Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
Mein Rat an den Leser lautet: „Quaerendo invenietis.“
Escher
Meiner Ansicht nach hat niemand den Begriff der Seltsamen Schleife visuell schöner und überzeugender dargestellt als der holländische Künstler M. C. Escher, der von 1898 bis 1972 gelebt hat. Escher hat einige der geistig anregendsten Bilder aller Zeiten geschaffen. Manche von ihnen haben ihren Ursprung im Paradoxen, der optischen Täuschung oder der Doppeldeutigkeit. Zu den ersten Bewunderern von Eschers Bildern gehörten Mathematiker, und das ist nicht verwunderlich, da die Werke oft auf mathematischen Prinzipien der Symmetrie oder der regelmäßigen Flächenaufteilung beruhen ... Ein typisches Bild von Escher jedoch enthält weit mehr als nur Symmetrien oder regelmäßige Flächenaufteilungen; oft liegt ihnen eine Idee zugrunde, die dann künstlerisch verarbeitet wird. Und insbesondere die Seltsame Schleife ist eins der am häufigsten wiederkehrenden Motive. Man werfe zum Beispiel einen Blick auf die Lithographie Wasserfall (Abb. 5), und vergleiche die in sechs Stufen endlos fallende Schleife mit der in sechs Stufen endlos ansteigenden Schleife des „Canon per Tonos“. Die Ähnlichkeit in der Auffassung ist bemerkenswert. Bach und Escher spielen ein einziges Thema in zwei verschiedenen „Tonarten“ durch: Musik und bildende Kunst.
Abb. 9 . Kurt Gödel.
so hat K. Gödels Entdeckung einer Seltsamen Schleife in mathematischen Systemen Ihren Ursprung in einfachen und alten Vorstellungen. In seiner absolut reinsten Fassung stellt Gödels Entdeckung die Übersetzung einer uralten philosophischen Paradoxie in die Sprache der Mathematik dar. Es handelt sich um die sogenannte Epimenides- oder Lügner-Paradoxie. Epimenides war ein Kreter, der einen unsterblichen Satz aussprach: „Alle Kreter sind Lügner.“ Eine verschärfte Version dieser Aussage lautet einfach: „Ich lüge“ oder: „Diese Aussage ist falsch.“ Wenn ich von der Epimenides-Paradoxie rede, meine ich im allgemeinen diese letztere Fassung. Es ist dies eine Feststellung, die der gemeinhin vorgenommenen Einteilung von Sätzen in „richtige“ und „falsche“ brutal Gewalt antut. Denn wenn man sie versuchsweise als wahr betrachtet, geht der Schuß sofort nach hinten los und läßt einen sie für falsch halten. Wenn man aber entschieden hat, daß sie falsch sei, bringt einen ein ähnlicher Rohrkrepierer dazu, sie für wahr zu halten. Der Leser möge es versuchen.
Die Epimenides-Paradoxie ist eine einstufige Seltsame Schleife — wie Eschers Bildgalerie. Was aber hat das mit Mathematik zu tun? Das eben ist Gödels Entdeckung. Seine Idee war es, mathematisches Denken zur Erforschung des mathematischen Denkens selbst zu verwenden. Dieser Einfall, die Mathematik „introspektiv“ zu machen, erwies sich als ungeheuer fruchtbar, und seine vielleicht weitestreichende Folge war die, die Gödel fand: den nach ihm benannten Unvollständigkeitssatz. Was dieser Satz enthält und wie er bewiesen wird, sind zwei verschiedene Dinge. In diesem Buch werden wir beide recht ausführlich behandeln. Der Satz läßt sich mit einer Perle vergleichen, und die Beweismethode mit einer Auster. Man schätzt die Perle wegen ihres Glanzes und ihrer Einfachheit; die Auster ist ein komplexes Lebewesen, dessen Organe dieses geheimnisvolle einfache Kleinod hervorbringen.
Gödels Satz erscheint als Behauptung VI in seiner 1931 erschienenen Arbeit „Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I.“ Er lautet:
Zu jeder ω-widerspruchsfreien rekursiven Klasse ҝ von Formeln gibt es rekursive Klassenzeichen r, so daß weder v Gen r noch Neg ( v Gen r) zu Flg ( ҝ ) gehört (wobei v die freie Variable aus r ist).
Oder, einfacher gesagt:
Alle widerspruchsfreien axiomatischen Formulierungen der
Zahlentheorie enthalten unentscheidbare Aussagen.
Das ist die Perle.
Es ist schwierig, in dieser Perle die Seltsame Schleife zu sehen. Das rührt daher, daß die Seltsame Schleife in der Auster — dem Beweis — verborgen liegt. Der Beweis von Gödels Unvollständigkeitssatz beruht darauf, daß man einen selbstbezüglichen mathematischen Satz niederschreibt, so wie die Epimenides-Paradoxie eine selbstbezügliche sprachliche Aussage ist. Während es aber sehr einfach ist, in der Sprache über die Sprache zu reden, ist es keineswegs leicht einzusehen, wie eine Aussage über Zahlen über sich selber sprechen kann. Es bedurfte tatsächlich schon eines Genies, um alleindie Idee der
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