Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
verschiedenen Tempi oder umgekehrt oder rückwärts gespielt wird. Doch die Fuge ist weit weniger starr als der Kanon, und infolgedessen bietet sie mehr Spielraum für emotionalen und künstlerischen Ausdruck. Eine Fuge läßt sich an ihrem Anfang erkennen: eine einzelne Stimme, die das Thema singt. Danach fällt eine zweite Stimme ein, entweder auf der Oberquinte oder auf der Unterquarte. Unterdessen geht die erste Stimme weiter und singt das „Gegenthema“: ein Nebenthema, das so gewählt ist, daß es rhythmische, harmonische und melodische Kontraste zum Hauptthema bildet. Jede Stimme fällt im Turnus ein und wird häufig vom Gegenthema in einer anderen Stimme begleitet, während die übrigen Stimmen das tun, was dem Komponisten an phantasievollen Dingen eben einfällt. Wenn alle Stimmen „angekommen“ sind, gibt es keine Regeln mehr. Zwar gibt es gewisse festliegende Dinge, die getan werden können, sie liegen aber doch nicht so fest, daß man eine Fuge einfach nach einer Formel komponieren könnte. Die zwei Fugen im Musikalischen Opfer sind hervorragende Beispiele von Fugen, die niemals nach einer Formel hätten komponiert werden können. In ihnen steckt weit mehr als bloße Fugalität.
Alles in allem stellt das Musikalische Opfer eine von Bachs höchsten Leistungen auf dem Gebiet des Kontrapunkts dar. Es ist an sich eine große intellektuelle Fuge, in der viele Einfälle und Formen miteinander verwoben und spielerische Doppelbedeutungen sowie subtile Anspielungen überaus häufig sind. Und es ist eine wundervolle Schöpfung des menschlichen Geistes, an der wir uns immer wieder erfreuen können. (Das ganze Werk hat H. T. David in seinem Buch J. S. Bach's Musical Offering sehr schön beschrieben.)
Ein Endlos Reduplizierter Canon
Von den Kanons im Musikalischen Opfer ist einer ganz besonders ungewöhnlich. Er ist einfach mit „Canon per Tonos“ überschrieben und dreistimmig. Die oberste Stimme singt eine Variation des Königlichen Themas, während unter ihr zwei Stimmen eine kanonische Harmonisierung ergeben, die auf einem zweiten Thema basieren. Die untere dieser beiden Stimmen singt ihr Thema in c-Moll (der Tonart des ganzen Kanons), und die obere Stimme dieses Paares singt das gleiche Thema, in der Tonhöhe um ein Intervall einer Quinte nach oben verschoben. Was diesen Kanon jedoch von allen andern unterscheidet, ist, daß er, wenn er zu Ende ist — oder vielmehr zu Ende zu sein scheint — nicht mehr in der Tonart c-Moll, sondern nunmehr in d-Moll ist.
Irgendwie hat Bach es fertiggebracht, vor den Augen des Hörers zu modulieren, d. h. von einer Tonart zur andern überzuwechseln. Und der Kanon ist so konstruiert, daß dieses „Ende“ sich reibungslos wieder an den Anfang anschließt; so kann man also den Prozeß wiederholen und nach E-Dur gelangen, um wiederum an den Anfang anzuknüpfen. Sukzessive Modulationen führen das Ohr in immer weiter entfernte Gebiete der Tonalität, so daß man nach einigen Modulationen erwarten würde, sich hoffnungslos weit von der Ausgangstonart entfernt zu befinden. Und doch ist, wie durch Magie, nach genau sechs solchen Modulationen die ursprüngliche Tonart von c-Moll wieder erreicht! Alle Stimmen sind genau eine Oktave höher, als sie zu Beginn waren, und an diesem Punkt kann das Stück auf musikalisch sinnvolle Weise abgebrochen werden. Wie man sich vorstellen kann, war das Bachs Absicht, aber er fand ohne Zweifel auch an der Implikation Gefallen, daß sich dieser Prozeß ad infinitum fortsetzen läßt, und vielleicht hat er deshalb an den Rand geschrieben: „Wie die Modulation steigt, so möge es auch der Ruhm des Königs tun.“ Um zu betonen, daß dieser Kanon in die Unendlichkeit verweist, nenne ich ihn den „Endlos Reduplizierten Canon“.
Mit diesem Kanon gibt uns Bach unser erstes Beispiel einer Seltsamen Schleife. Dieses Phänomen tritt immer dann ein, wenn wir uns durch die Stufen eines hierarchischen Systems nach oben (oder nach unten) bewegen und uns dann unerwartet wieder genau an unserem Ausgangspunkt befinden. (Im vorliegenden Fall ist das System das der Tonarten in der Musik.) Manchmal gebrauche ich den Ausdruck Verwickelte Hierarchie zur Beschreibung eines Systems, in dem eine Seltsame Schleife vorkommt. Im Verlauf unserer Betrachtungen wird das Thema der Seltsamen Schleife immer wieder auftauchen. Mitunter wird es verborgen sein, mitunter offen zutage liegen; mitunter wird es aufrecht, dann wieder auf dem Kopf stehen oder rückläufig sein.
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