Göring: Eine Karriere (German Edition)
zunächst noch gehofft, die Engländer durch das Attackieren ihrer Hauptstadt in die Knie zu zwingen, so wurde er bald eines Besseren belehrt. Im November zog er die Konsequenzen aus dem Misserfolg. Die Luftwaffe änderte erneut ihre Taktik und nahm nun die britische Luftrüstungsindustrie ins Visier. Mit ihr sollte das Rückgrat der britischen Luftverteidigung getroffen werden.
Es war … noch außerordentlich glücklich, dass dieses Coventry gewählt wurde, und zwar deswegen, weil hier sich ein Ziel anbot, das nicht als Terrorangriff gemeint war, sondern dass ein militärisch wichtiges Ziel hier gegeben war.
General Kesselring, Aussage in Nürnberg
Den ersten Angriff nach der neuen Strategie flog die Luftwaffe am 14./15. November auf Coventry, das Zentrum der britischen Flugzeugmotorenproduktion. Die knapp 20 Fabriken der Stadt lagen inmitten von Wohngebieten. Brand- und Sprengbomben verwandelten Coventry binnen Stunden in ein Flammenmeer. 568 Einwohner starben, 60 000 von 75 000 Gebäuden lagen in Schutt und Asche, darunter die Kathedrale aus dem 14. Jahrhundert. Zum ersten Mal im Krieg wurde planmäßig ein ganzes Stadtzentrum zerstört, woraufhin die alliierte Propaganda »Coventry« zum Inbegriff deutscher Luftbarbarei erklärte. Gleichwohl ging man im britischen Bomber Command daran, die Bombardierung der Industriestadt als Studienobjekt für die Vorbereitung späterer Flächenangriffe zu nutzen.
Mit der Luftschlacht um England bekam der Luftkrieg eine neue Dimension. In zehn Monaten starteten Görings Piloten zu rund 50 000 Einsätzen und warfen etwa 50 000 Tonnen Bomben ab – noch nie in der Geschichte hatte es einen Luftwaffenangriff in einer solchen Größenordnung gegeben. Insgesamt 43 000 Zivilisten kostete die »Battle of Britain« zwischen August 1940 und Mai 1941 das Leben. Trotz dieser erschreckenden Zahlen waren die Flüge gegen London und Coventry noch immer nicht ausschließlich Terrorangriffe. Nach wie vor visierten die deutschen Piloten primär militärische Ziele an, etwa die gegnerische Luftwaffe und die Luftrüstungsindustrie. Die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen galt zum damaligen Zeitpunkt als Nebenziel oder auch als erwünschte Begleiterscheinung. Mit den Angriffen gegen London bewegte sich die deutsche Luftwaffe allerdings in einer Grauzone, denn es gab keine völkerrechtlichen Bestimmungen für den Luftkrieg. Insbesondere die Vergeltungsflüge leiteten den schleichenden Übergang zu einem Bombenkrieg ein, in dem militärische und zivile Ziele gleichermaßen anvisiert wurden. Die Folge war ein Krieg, der keinen Unterschied mehr machte zwischen Front und Heimat.
»Inbegriff deutscher Luftbarbarei«: Die durch deutsche Bomben zerstörte Kathedrale von Coventry
Die hohen eigenen Verluste und die ausbleibenden Erfolge in der Luftschlacht um England machten Göring zunehmend ratloser. Ihm fehlte jede visionäre Kraft, aus den Misserfolgen eine neue tragfähige Luftkriegsstrategie zu entwickeln. An der Spitze der Luftwaffe gab es keine regelmäßigen Besprechungen über allgemeinere Fragen des Luftkriegs, keine exakte Lageanalyse, kaum ein Abwägen von Prioritäten und Alternativen. Göring kam über den Gedanken einer kurzen Schlacht letztlich nicht hinaus und konzentrierte seine Kräfte gegen den Feind in vorderster Front. Für den Jagdflieger des Ersten Weltkriegs war und blieb der Luftkrieg eher eine Frage der Moral als des Materials. Julius Meimberg, Jagdflieger im Geschwader Richthofen, erlebte Göring bei einer Ordensverleihung im Oktober 1940 in der Normandie. Von den angetretenen Piloten und Mannschaften forderte Göring vor allem eins – einen fanatischen Siegeswillen: »Aber abschießen müssten wir. Abschießen, abschießen, abschießen. Brennend abschießen! So wie er und seine Flugzeugführer des ersten Richthofen-Geschwaders vor 22 Jahren! … Und plötzlich eröffnet sich mir der schrille Surrealismus dieser ganzen Veranstaltung hier: diese sündteuren bordeauxroten Stiefel auf der normannischen Ackererde, die üppig beringte Rechte des Mannes, die den Marschallstab in ausholenden Bewegungen im Takt der Rede schwingt, die taubenblaue Operettenuniform, der schwergewichtige Luftflottenchef im Hintergrund, der das angetretene Menschenmaterial durch seinen Kneifer mustert. Zu Befehl, meine Herren: In Zukunft werden wir die Tommys nur noch brennend abschießen. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass die Boys von der Insel dafür stillhalten
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