Gößling, Andreas
noch mit halbem Ohr zu. »Vier Kopf der Tapferkeit – unser mächtiger Sonnengott Ahau. Fünf Krug der Wandlung – unsere große Göttin Mam. Sechs Rüssel des Zorns – Cha’ac, der Regengott…«
Hinter ihnen drängten sich jetzt Unmengen von Leuten. Langsam, aber sicher wurden sie und Ixpalim immer weiter auf den riesigen Königspalast mit seinem klotzigen Schlangenrelief zugeschoben.
Aber viel näher konnten sie an den Palast überhaupt nicht heran-kommen – eine Holzkonstruktion, so breit wie der gesamte Platz, versperrte ihnen den Weg. Die Leute hinter ihnen schubsten und riefen sich in ihrer Schnalz-und Zwitschersprache Grüße oder Scherzworte zu. Auch die Trommeln hatten wieder angefangen zu wummern, langsam und schwerfällig, vom Cenote zu ihnen herauf-dröhnend wie aus dem Unterleib eines Riesen. Nur ganz allmählich dämmerte Carmen, was die Männer da gestern aus all diesen Stangen und Brettern zusammengezimmert hatten. Ein Podium, hatte sie gedacht, eine Bühne für ihre Maisgottfeiern, aber es war etwas vollkommen anderes. Eigentlich war es sogar das Gegenteil davon. Ein Loch aus Holz.
Die Trommeln wummerten, die Leute schrien durcheinander.
Jetzt setzten auch noch Flöten und Pfeifen ein. Es klang wie Gespensterwinseln. Carmen hatte auf einmal das Gefühl, als ob eine riesige Faust sie im Nacken gepackt hielte und unerbittlich immer weiter auf dieses Holzding zuschieben würde.
Eigentlich war es einfach ein gewaltiges Gatter. Ein massiver Holzzaun, maisgelb angemalt. So lang wie der ganze Palast des Canek und vielleicht zwei Meter hoch. Mit Ritzen, so groß, dass man gut hindurchsehen, sich aber bestimmt nicht zwischen den Brettern durchquetschen konnte – oder höchstens, wenn man so winzig wie Ixpalim war. Rechts grenzte der Königspalast im rechten Winkel an eine himmelhohe Pyramide, die gleichfalls in leuchtendem Maisgelb angemalt war. Die umzäunte Fläche war so groß, dass sie sich über die ganze Breitseite dieser Pyramide erstreckte. Vom Gatter aus zog sich ein Gerüst aus Stangen und Stufen an der Fassade des ungeheuer steil in den Himmel ragenden Baus empor. Gerade jetzt deutete Ixpalim mit ausgestrecktem Armchen darauf und piepste: »Acht
Herz des Überflusses – der Tempel des Maisgottes!« Vor ihnen klaffte ein Loch im Zaun und die Menge hinter ihnen schubste und bugsierte sie genau darauf zu. Die Trommeln dröhnten immer lauter, immer drängender, die Leute um sie herum schwitzten und schrien.
Carmen war vielleicht noch drei Schritte von der Öffnung im Gatter entfernt, als ihr klar wurde, dass sie da auf gar keinen Fall reinwollte.
Was immer sich dahinter befinden mochte – zwischen all den Brettern, Köpfen, Schultern war kaum etwas zu erkennen. Der Boden da drinnen schien mit einem glitschigen gelben Zeug bedeckt. Fast ohne es zu bemerken, hatte Carmen die kleine Priesterin an sich gezogen und die Hände auf ihre Schultern gelegt. Der Wind wehte einen Schwall übel riechender Luft zu ihnen her. Es roch wie gegorener Saft, scharf und verdorben. Das kam bestimmt von diesem gelben Matschzeug! Wieder rief Ixpalim ihr etwas zu, den Kopf zu ihr emporgedreht, ihre Augen glänzten wie zwei schwarze Edelsteine. Aber zu verstehen war gar nichts mehr, die Leute brüllten und sangen jetzt wie rasend durcheinander, die Trommeln wummerten wie in einem Fiebertraum, die Flöten winselten und pfiffen. Und wie Carmen sich auch mit dem Rücken gegen die Menge stemmte, wie verzweifelt sie ihre Beine durchdrückte und sich schwer zu machen versuchte – es half alles überhaupt nichts. Die Menge drückte sie auf die Zaunöffnung zu, wie der Wind ein abgerissenes Blatt vor sich herbläst.
»Alle werden versuchen dich zu bekommen!«, rief Ixpalim.
»Was?«, schrie Carmen zurück. Mich zu bekommen? Das konnte das Großmütterchen doch nicht wirklich gesagt haben? Sie beugte sich zu Ixpalim herunter und verlor fast das Gleichgewicht, da sie im selben Moment von hinten geschubst wurde. Wütend fuhr sie herum und sah, dass sich hinter ihr dutzende Mädchen in ihrem Alter drängten, in bunten Gewändern, mit lachenden Gesichtern, Blumen im festlich aufgesteckten Haar.
»Die Mädchen auf der einen – die jungen Männer auf der anderen Seite!« Ixpalim hatte ihre Hände bis zu den Schultern erhoben.
Jetzt deutete sie mit den Fingern an, wie beide Seiten aufeinander losrennen würden. »Viele Jungs werden sich auf dich stürzen. Du bist das Opfer – vom Maisgott auserwählt – dich zu
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