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Gößling, Andreas

Gößling, Andreas

Titel: Gößling, Andreas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tzapalil - Im Bann des Jaguars
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»Krrärrärrk!« Mit einem Zeh stupste sie die kleine Priesterin an.
    »Oh, entschuldige.« Ixpalim rieb sich mit winzigen Fäusten über die Augen. »Unsere oberste Priesterin, die von der Mondgöttin geliebte Ixkasaj, hat mir befohlen bei dir zu wachen.« Sie sprang auf und strich ihr Gewand glatt. »Wenn du wach bist, soll ich dich in der Stadt herumführen. Die Feiern zum Tag des Maisgottes fangen im Morgengrauen an.«
    Carmen lächelte der Kleinen zu. »Okay, dann nichts wie los.«
     
    Die Sonne war gerade erst aufgegangen, aber das Fest war tatsächlich schon in vollem Gang. Hinter Ixpalim trat Carmen aus dem Tempelbau und ließ sich gleich weiterziehen, hinaus auf den riesig großen Platz. Die kleine Priesterin hielt sie wieder an der Hand, oder nein, nur am Zeige-und am Mittelfinger. Bereitwillig ließ sich Carmen durchs Gedränge führen. Bei diesem Trubel würde sie überhaupt nicht zum Nachdenken kommen. Was für ein Glück! Denn was sollte das jetzt noch bringen – wenn sie sich wieder und wieder wegen ihrem Traum und den Priesterinnen, wegen Maria und Pedro und seinem Vater, wegen Georg und Cingalez den Kopf zerbrach!
    Der Platz war ein riesiger, rechteckiger See aus leuchtenden Farbtupfern. Handwerker und Bauern in bunter Tracht, Jäger und Fischer im Lendentuch drängten sich zwischen Palästen und Pyramiden, Alleebäumen und Bretterbuden. Priester in goldgelben und schwarzen, in blutroten und weißen, in grauen und grünen Gewändern bahnten sich energisch ihren Weg. Hoch über ihnen spannte sich das Dach aus Laub und Lianen und färbte jeden Sonnenstrahl, den es überhaupt durchließ, jadegrün ein. »Heute darf jeder auf den heiligen Platz«, rief ihr Ixpalim zu. Ihre Augen glänzten, ihre Wangen waren gerötet. Das kindliche Großmütterchen schien sich prächtig zu amüsieren.
    In Buden und Garküchen wurden Getränke und Tortillas, Hühnerschlegel, Nüsse und Früchte feilgeboten. Aus Bechern und Lederbeuteln gossen die Leute reichlich Schnaps in ihre Hälse. Jedenfalls roch das Zeug ziemlich scharf und nicht wenige Männer hatten schon glasige Augen und einen torkelnden Gang. Ein hagerer Kerl im schwarzen Schurz hielt sich mit völlig verdreckter Hand an Carmens Schulter fest und stieß ihr seinen Fuselatem ins Gesicht. Ixpalim schimpfte wie rasend zu ihm herauf. Der betrunkene Bauer wurde ganz grau im Gesicht, verbeugte sich vor ihnen und suchte torkelnd das Weite.
    »Was hast du zu ihm gesagt?«, fragte Carmen.
    »Dass du dem Maisgott gehörst.« Ixpalim lächelte so bedauernd wie ihre mütterliche Enkelin. »Niemand darf dich berühren außer ihm.«
    Niemand außer ihm? Für einen Moment wurde ihr doch die Kehle eng. Plötzlich spürte sie eine wilde Sehnsucht nach Pedro. »Bring mich zu ihm!«, sagte sie zu Ixpalim.
    »Zum Maisgott?«
    »Nein – ja – zu Pedro!« Der sollte doch im Tempel des Maisgottes sein.
    Ixpalim packte Carmens Finger fester und zog sie quer über den Platz. Die kleine Priesterin reichte den meisten Leuten nicht mal bis zum Nabel, aber die muskulösen Männer und stämmigen Frauen in den bunten Gewändern wichen ihr ehrerbietig aus. Tausend Gerüche, von Bohnen und Gewürzen, Kakao und Copal, wehten durch die Luft. Einmal flog ein Flugzeug hoch über ihnen durch den Himmel, unsichtbar hinter dem Dach aus Zweigen und Lianen. In dieser Umgebung klang es noch viel unwirklicher, als sich in München auf dem Marienplatz ein Dutzend tanzender Jaguarpriester ausgenommen hätte. Trotzdem spürte Carmen für einen Moment ein Zittern tief in ihrem Innern. Wenn die sie hier unten doch sehen könnten!
    Dann wäre ja doch noch Hoffnung… Schluss damit! Denk an was anderes! Oder willst du hier mitten auf dem Platz anfangen zu heulen? »Warum gebt ihr euren Göttern eigentlich so seltsame Zahlen-namen?«, fragte sie rasch. »Acht Herz des Überflusses zum Beispiel?« Sie schaute über ihre Schulter. Ein paar Schritte hinter ihnen standen vier Priester in sonnengelben Gewändern und sahen mit wachsamen Gesichtern zu ihnen her. »Oder Vier Kopf der Tapferkeit?« Ixkasaj hatte Recht gehabt. Die vier folgten ihnen tatsächlich, seit sie aus dem Tempel der Mondgöttin getreten waren.
    »Zahlreich und mächtig sind die Götter«, piepste die winzige Priesterin. »Jeder von ihnen regiert eine Zahl. Eins Milch der Liebe – Ixchel, unsere Mondgöttin. Zwei Atem des Himmels – Ik, der Wind-gott…« Piepsend und gestikulierend redete sie immer weiter, aber Carmen hörte ihr höchstens

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