Gößling, Andreas
berühren bringt Glück!« Wieder bekam Carmen von hinten einen Stoß, so wild diesmal, dass sie fast bis zur Gatteröffnung taumelte. »Dein Pedro muss sich beeilen!«, rief Ixpalim ihr hinterher. »Wenn du in seinem Arm bist, darf dich keiner mehr anrühren – außer ihm!« Sie deutete himmelwärts, zum First der leuchtend gelben Pyramide hinauf.
Jetzt erst sah Carmen, dass dort oben, in schwindelnder Höhe, ein riesiger Kopf aus der Wand gemeißelt war. Es war genau das gleiche Gesicht wie auf der verdammten Maske – mit den katzenhaften Augen, den lüsternen Lippen, dem grotesken Haarschopf von der Form einer gewaltigen Maispflanze. Die Blätter, der monströse Kolben, alles war unter dem jadegrünen Himmel ganz genau zu sehen. »Aber ich will nicht!«, schrie Carmen. Eine Hand legte sich auf ihren Rücken und schob sie durch das Loch im Zaun.
Das gelbe, glitschige Zeug auf dem Boden war natürlich Mais. Zermatschte Maiskörner, zertretene Kolben, zerstampfte Stauden in solchen Massen, dass Carmen gleich bis zu den Knöcheln einsank.
Kreischend drängten sich hinter ihr die anderen Mädchen durch die Öffnung. Kreischend, zwitschernd, schreiend, lachend, lauter stämmige, festlich aufgeputzte Mädchen, die vor Erwartung regelrecht glänzten und glühten. Das Zeug auf dem Boden stank grauenvoll, ein scharfer, gäriger Geruch wie von verdorbenem Fruchtsaft. Unter Carmens Füßen glitschten Kolben weg, ballten sich Maiskörner zu Klumpen, bildeten Blätter spiegelglatte Bahnen. Sie machte ein paar mühsame Schritte nach rechts. Hinter ihr drängten immer mehr Mädchen durch das Gatterloch. Auf der anderen Seite des umzäunten Bereichs, vor der bunten Fassade des Königspalastes, standen weitere Massen von Leuten. Sie waren mindestens dreißig Schritte weg und aus dieser Entfernung nicht besonders gut zu erkennen. Aber nach allem, was Ixpalim ihr zugerufen hatte, mussten das die jungen Männer von Tzapalil sein, die sich gleich allesamt auf sie stürzen würden.
Carmen reckte ihren Hals und guckte sich die Augen nach ihm aus, aber von Pedro war weit und breit nichts zu sehen. Jedenfalls konnte sie ihn nicht erkennen in dem Durcheinander der hundert oder hundertfünfzig Jungs, die wie ein Rudel Raubkatzen dort drüben hin und her liefen. Sie hatten alle nur ein buntes Tuch um ihre Hüften, so als ob Kleidung ihnen bloß hinderlich wäre bei dem, was sie gleich machen würden. Ein Fruchtbarkeitsritus – so hatte Pedro diese Feier ja bezeichnet, und offenbar sollte es auch genau das werden: ein wildes, wahnsinniges Ritual, bei dem die halbwüchsigen Jungs und Mädchen von Tzapalil zum ersten Mal aufeinander losgelassen würden. Zum Zeichen, dass ihre Kindheit zu Ende war, dass sie jetzt zu den Erwachsenen gehörten und dieselben Sachen machen durften wie ihre Eltern.
Carmen ruderte mit den Armen. Der Schweiß lief ihr nur so übers Gesicht, den Rücken und hinten die Beine runter. Ohne größere Gegenwehr ließ sie sich nach rechts abdrängen, immer das Gatter entlang, hinter dem sich die Gaffer ballten. Offenbar freuten sich die Leute da draußen schon gewaltig darauf, gleich zu sehen, wie ihre Kinder sich aufeinander schmeißen würden. Was soll das hier denn wirklich werden?, dachte Carmen. Eine Orgie zu Ehren dieses Maisgottes? Auch in den Fenstern überall um den Platz herum, auf den Stufen der Pyramiden und da oben auf dem flachen Dach des Königspalastes hockten, standen und saßen unzählige Leute und glotzten zu ihnen herunter.
Alle schrien durcheinander. Der scharfe Geruch, das Wummern der Trommeln, die kreischenden Stimmen – es war überwältigend und betäubend. Irgendwann fing Carmen auch an zu schreien. »Pedro!«, rief sie. »Maria!« Dabei wurde sie immer weiter nach rechts abgedrängt. Schließlich stand sie fast schon unter dem komischen Gerüst, das an der rechten Seite über dem Zaun angebracht war. Sie legte den Kopf zurück. Es reichte wirklich bis zum Dach der Maisgottpyramide hoch, hundert Meter über dem Platz oder sogar noch mehr. Ein Durcheinander aus Stangen und Stufen. Ihr wurde schwindlig. Rasch senkte sie wieder den Kopf. Im selben Moment erschallte ein gewaltiger, lang gezogener Schrei. Die Trommeln wummerten noch lauter, die ganze Stadt, der ganze Wald schienen zu schreien und zu pfeifen und zu dröhnen. Und dann rannten die Jungs da drüben allesamt los.
Auch die Mädchen auf Carmens Seite hatten sich in Bewegung gesetzt. Aber das bemerkte sie erst, als sie plötzlich
Weitere Kostenlose Bücher