Gößling, Andreas
die kleinste Pause hierher zurück.« Sie legte Ixkulam eine Hand auf die Schulter und schob sie zur Tür. Plötzlich wirkte sie besorgt. »Mitternacht ist schon vorbei. Für jede Strecke braucht ihr sechs Stunden. Wenn alles gut geht, seid ihr morgen zur Mittagsstunde wieder hier.«
»Hey, langsam!« Carmen taumelte hinter ihnen her. »Aber so geht das doch nicht«, rief sie. »Ixkulam, ihr könnt doch nicht ohne mich fahren! Bitte, Ixkasaj, lass mich mitgehen!«
»Psst!«, machte Ixkasaj wieder und drehte sich um zu ihr. »Jetzt hast du Ixpalim aufgeweckt.« Hinter der Altarkugel kam die kleine Priesterin hervor und rieb sich mit winzigen Händchen die Augen.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass unsere Wächter dich aus der Stadt lassen würden? Die Priester des Lahkin werden dir folgen wie Schatten, sowie du dieses Haus verlässt. Und wenn du dich auch nur dem Cenote näherst…« Kopfschüttelnd sah sie Carmen an. »Nein, du musst hier bei uns bleiben«, sagte sie und rief dann leise, in völlig verändertem Tonfall: »Beeil dich, Ixpalim, gib deiner Enkelin zum Abschied einen Kuss!«
»Deiner Enkelin?« Ungläubig sah Carmen von dem kleinen Mädchen zu Ixkulam, die sich hingekauert und ihre Arme weit ausgebreitet hatte.
»Sie ist meine wiedergeborene Großmutter. Und meine Tochter auch.« Ixkulam sah Carmen mit ausdrucksloser Miene an. »Seit wann schließt sich das denn gegenseitig aus?« Mit einem leisen Jauchzer warf sich Ixpalim an ihre Brust. Ixkulam hob das kleine Mädchen hoch und wirbelte es im Kreis. Dann stellte sie es so behutsam wieder auf die Erde, als ob es sich wirklich um eine zerbrechliche Großmutter handelte, und eilte ohne ein weiteres Wort zwischen den wehenden Tüchern davon.
17
Als Carmen im Morgengrauen erwachte, dachte sie als Allererstes: Mein allerletzter Tag. Der Gedanke fühlte sich an wie gar nichts.
Vollkommen unwirklich, so als ob Ixkasaj einfach Recht hätte: Nichts war jemals vorbei, oder? Hey, mein Leben schon gar nicht!
Sie lag ganz still da und getraute sich nicht auch nur einen Ton von sich zu geben. Keine Ahnung, was das für ein Ton sein würde: Affenlachen, Hundeknurren, Eulenheulen.
Sie lag in Ixkulams Kammer auf der steinernen Bank. Eigentlich hatte sie erwartet, dass jeder einzelne Knochen ihr wehtun würde, aber komischerweise fühlte sie sich ganz ausgeruht. Sie setzte sich hin und rieb sich die Augen. Neben ihr kauerte Ixpalim auf dem Boden. Das Köpfchen war ihr auf die Brust gesunken. Leise seufzte das Großmütterchen im Schlaf. Carmen lächelte auf sie hinunter und getraute sich immer noch nicht, auch nur einen Piep zu sagen. Vielleicht würde ja auch ein verrückter Schrei aus ihrem Mund kommen oder ein bunter Fliegenschwarm. Eigentlich war doch alles möglich, oder nicht?
Obwohl sie hier unter der Erde hockten, war das morgendliche Konzert der Urwaldvögel ganz deutlich zu hören. Zum letzten, letzten Mal, dachte sie. Es fühlte sich immer noch ganz unwirklich an.
So absurd wie die Vorstellung, dass Ixkulam und die anderen drei Priesterinnen seit Mitternacht auf einem Fluss unter dem Urwald dahinrasten. Vielleicht kamen sie ja gerade in diesem Moment an ihrem Ziel an? Stiegen im Cenote bei Oxamac aus ihrem Boot und kletterten die Treppe hoch, wie die Leute in anderen Ländern aus U-Bahnhöfen kamen. Rannten dann durch den Wald, halb betäubt von der langen Fahrt im Dunkeln und vom Getöse der Vögel, das da draußen im Wald natürlich viel lauter war als hier in Tzapalil, im Keller des Tempels der Mondgöttin. Liefen also zwischen Bäumen und Büschen entlang, zu der Lichtung, die sie, Carmen, im Traum gesehen hatte. Und die gab es dort wirklich, mit der Ceiba, dem Dornbusch, dem Ramónbaum? Und nicht weit von dort saß Georg in seinem Camp und traf ahnungslos seine allerletzten Vorbereitungen, bevor sie das Tal von Oxamac überfluten würden? Und unter dem Baum, zwischen den zermatschten Früchten, war wirklich das Versteck mit den drei heiligen Sachen, die Maria dort vergraben hatte?
Und die vier Priesterinnen schnappten sich die Sachen, rannten zu-rück zum Cenote, sprangen wieder ins Boot und paddelten sechs Stunden lang wie blödsinnig zurück – alles, um ihr und Pedros und Marias und Xavier Gómez’ Leben zu retten? Obwohl doch nichts jemals vorbei war? Hey, unser Leben schon gar nicht!
Jetzt kam doch ein Ton aus ihrem Hals – kein Lachen, kein Schluchzer, nichts in dieser Art. Am ehesten hörte es sich an wie Papageikrächzen.
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