Gößling, Andreas
von den Dämpfen, die vorhin aus dem Boden aufgestiegen waren.
Murmelnd und stockend erzählte sie, was sie gesehen hatte. Ixkasaj und Ixkulam kauerten neben ihr und hörten aufmerksam zu. Sie fühlte sich immer noch halb betäubt und wie in Watte gewickelt.
Und immer noch sah sie das dunkel schimmernde Wasser vor sich und spürte die Erschütterungen der herandonnernden Flut.
Auch nachdem sie fertig gesprochen hatte, blieben die beiden Priesterinnen noch längere Zeit stumm. Ixkasaj hatte die Augen geschlossen. Sie schien nachzudenken, während Ixkulam in angespannter Haltung neben ihr kauerte wie eine Katze auf dem Sprung.
»Das Königsgrab, aus dem die vier heiligen Dinge geraubt worden sind, befindet sich in der versunkenen Stadt Oxamac.« Ixkasaj öffnete die Augen. Sie sah erst Carmen, dann Ixkulam an und wartete, bis die junge Priesterin ihre Worte übersetzt hatte. »Das wissen wir im Priesterrat seit langem. Deshalb ist es dem Canek oder dem Lahkin auch gar nicht so wichtig, was mit diesen heiligen Sachen passiert. Natürlich sind sie alle zornig auf die weißen Plünderer. Und natürlich wollen sie die Götter besänftigen. Aber die Könige von Oxamac haben jahrhundertelang Krieg gegen Tayasal geführt. Warum sollten da ausgerechnet wir die Tempel und Gräber von Oxamac beschützen?«
»Die Könige von Oxamac?«, wiederholte Carmen. Sie lag mit dem Rücken auf der Mondbank und über ihr hingen unzählige silberfarbene Tücher von der Decke herunter. »Wann soll das denn gewesen sein?« Sie hatte Mühe, halbwegs klar zu denken. Im Fackel-schein funkelte und schimmerte über ihr alles silbrig, als schaute sie in den Sternenhimmel empor. Es kam ihr vollkommen verrückt vor, dass Ixkasaj von diesen längst vergessenen Kämpfen redete, als ob die sich gestern erst abgespielt hätten.
»Nichts ist jemals vorbei. Alles Zukünftige ist immer schon geschehen.« Die oberste Priesterin lächelte Carmen an, doch ihr Blick ging durch sie hindurch. »Wie könnt ihr weißen Leute nur glauben, dass die Zeit wie ein Fluss strömt, von der Quelle bis zur Mündung und niemals mehr zurück? Tatsächlich fließt sie ja wie die Strömung in jedem Cenote: für alle Zeiten im Kreis.« Ihre Hände zeichneten Spiralen in die Luft. »Nichts ist jemals vorbei«, wiederholte sie.
»Alles, was irgendwann einmal geschehen ist oder geschehen wird, ist in allen Herzen aufbewahrt. Was du im Traum gesehen hast, ist nur ein winziger, hastig bekritzelter Fetzen aus dem unendlichen Buch, in dem alles immer schon geschrieben steht.« Sie erhob sich und winkte Carmen und Ixkulam gleichfalls aufzustehen. »Oxamac liegt unter Erde und Bäumen begraben in dem Tal, aus dem diese europäische Kraftwerksgesellschaft einen riesigen Stausee machen will«, sagte sie zu Carmen, die wie eine Schlafwandlerin vor ihr hin und her schwankte. »Das archäologische Institut, in dem deine Mutter arbeitet, hat erklärt, dass in dem Tal keinerlei Maya-Altertümer unter der Erde lägen. Dass also der Stausee ruhig gebaut werden darf. Der Wissenschaftler, der das bescheinigt hat, heißt Paolo Cingalez. Das alles wissen wir seit vielen Monaten«, fügte sie hinzu und sah wieder durch Carmen hindurch. »Dass deine Mutter aber die heiligen Dinge, die sie von den Grabräubern bekommen hat, gerade dort wieder vergraben hat, ganz in der Nähe des Ortes, wo sie geraubt worden sind, ist wiederum sehr gut. Es beweist, dass die Götter auch die Schritte derer lenken, die nicht an sie glauben.«
»Aber wo hat sie die Sachen denn vergraben?«, rief Carmen aus.
»Ich versteh überhaupt nichts mehr! Aus diesem Durcheinander, das ich da zusammengeträumt hab, kann man doch alles und gar nichts herauslesen!«
»Psst, leise«, sagte Ixkasaj, »du weckst ja alle auf. Die Priesterinnen und die Kranken, die Liebenden und die Schwangeren – sie alle sollen schlafen, solange die Mondgöttin wacht. Die Lichtung, die du im Traum gesehen hast, liegt in einer kleinen Schlucht, gar nicht weit von Oxamac. Im Traum hast du ja schon gehört, wie das Wasser sich heranwälzt, das in wenigen Tagen das ganze Tal überfluten soll. Aber keine Sorge: Die Schlucht, in der deine Mutter das Versteck angelegt hat, wird von der Flut verschont bleiben.« Sie wandte sich an Ixkulam. »Wecke die drei Priesterinnen, die wir vorhin für diese Aufgabe bestimmt haben. Nehmt das beste Boot, das ihr finden könnt. Fahrt so schnell ihr könnt nach Oxamac und holt die Sachen aus der Erde. Paddelt dann ohne
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