Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
die »Farbenlehre« endlich ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Nach Schillers Tod begann Goethe, Teilmanuskripte in den Druck zu geben, obwohl er mit dem Ganzen noch nicht fertig war. Er wollte sich unter Zugzwang setzen. Nun war es die undankbare Aufgabe des Verlegers Frommann in Jena, den säumigen Autor zu mahnen. Er
hege keinen andern Wunsch,
hatte Goethe an Schiller geschrieben,
als von der Chromatik entbunden zu sein
. Als dann am 16. Mai 1810 das Farbenwerk in zwei Oktavbänden und einem Quartband mit Bildtafeln erschien, war das sein
Befreiungstag
, wie er im Rückblick der »Tag- und Jahres-Hefte« mit ironischem Unterton schreibt, denn der offiziell ›Befreiung‹ genannte spätere Sieg über Napoleon konnte für ihn als eine solche Befreiung nicht gelten. Während die patriotischen Leidenschaften um ihn herum aufbrandeten, gab Goethe sich seinen ruhigen Betrachtungen hin über die Urphänomene von Licht, Finsternis und der Mischung von beiden: das Trübe, das unseren Augen als Farbe erscheint.
Der zentrale Gedanke der Farbenlehre, schroff gegen Newtons Theorie der Farben gewendet, lautet: Die Farben sind nicht, wie für Newton, im Licht enthalten und können dort durch Brechung als Spektralfarben sichtbar gemacht werden. Das Licht, sagt Goethe, kann nicht etwas enthalten, das dunkler ist als es selbst. Farbe entsteht vielmehr, wenn Licht auf Finsternis stößt, sich mit ihr mischt oder wenn Licht ein dunkleres Medium durchdringt. Zunächst dem Licht entsteht die Farbe Gelb: sie ist verschattetes Licht. Zunächst dem Dunkeln entsteht die Farbe Blau: sie ist aufgehellte Finsternis. Die Mischung dieser beiden Grundfarben Blau und Gelb ergibt Grün. So erhält man zunächst das Farbdreieck mit Blau und Gelb und Grün als untere Spitze. Zum Farbenkreis gerundet ist die Anordnung erst, wenn die beiden Grundfarben Blau und Gelb sich verwandeln,
steigern
heißt es bei Goethe, durch weitere Beimischung von Dunkelheit: so wird das Blau zu Violett und das Gelb zu Orange; im Rot treffen diese Steigerungen von Violett und Orange her zusammen. Man hat also
Polarität
der Grundfarben, Gelb und Blau; sodann ihre
Steigerung
in Richtung Rot und ihre Mischung in Richtung Grün. So schließt sich der Farbenkreis über Polarität und Steigerung: links Blau, rechts Grün, oben Rot, unten Grün, dazwischen die Übergänge, wie Grüngelb, Braun, Hellrot usw. Immer sind von den Grundfarben her Verschattungen oder Aufhellungen im Spiel, sowie Überlagerungen und Vermischungen. Bei alledem wird der Grundsatz unbedingt festgehalten: das Licht ist ein
Urphänomen
, es läßt sich nicht noch einmal zerlegen und auf etwas anderes zurückführen. Was das Licht aber nun selbst ist, diese Frage nach seinem Wesen, nach seiner Substanz, dies wiederum interessiert Goethe eigentlich nicht. Warum nicht? Weil er, schon fast im modernen wissenschaftlichen Sinne, nicht nach dem Wesen einer Sache forscht, sondern nach ihren Wirkungen. Und warum dies? Weil wir über das Wesen von etwas prinzipiell nichts wissen können, sondern nur sofern es wirkt, und das heißt in letzter Instanz: auf uns wirkt. Der Ort dieser Wirkungen ist die Gesamtheit unserer sinnlichen und geistigen Eindrücke, und zwar nicht nur beim jeweils Einzelnen, sondern im Austausch und Abgleichen der mannigfaltigen Perspektiven und Erfahrungen. Der einzelne Mensch ist ein Organismus zur Erfassung der ihm begegnenden Natur, doch die Menschheit insgesamt ist auch, jedenfalls potentiell, ein Großorganismus für das Verständnis dieser Natur, der eigenen und der äußeren. In einem Brief an Schiller schrieb Goethe einmal, die Natur verstecke sich geschickt, indem sie es nicht dazu kommen läßt, daß die Menschen erkennend zusammenwirken. Wäre dies möglich, würde die Menschheit sich wirklich zu einem Erkenntnissubjekt vereinigen, dann würden alle Schleier fallen, und die Natur wäre für uns das aufgeschlagene Buch, das sie jetzt nicht ist. Gleichwohl, wenn wir auch den ganzen Text nicht überblicken und verstehen, lesen können wir immerhin schon. Im Buch der Natur lesen aber heißt: ihre Wirkungen auf uns registrieren, die Wahrnehmungen dafür verfeinern, das Urteil schärfen, Wirkungen in Beziehung zueinander setzen und so weiter. Unsere Wirklichkeit insgesamt sind diese Wirkungen auf uns. Über ihren Umkreis kommt man nicht hinaus, was Goethe bereits im Vorwort der »Farbenlehre« hervorhebt:
Denn eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken.
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