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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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sondern meint: Sorgfalt der Beobachtung, geschulte Sinne, genaue Erinnerung, um Vergleiche anstellen zu können, Urteilskraft, Erfahrungsaustausch, und nicht zuletzt: Ehrfurcht vor dem Geheimnis.
Das schönste Glück des denkenden Menschen ist
, lautet eine andere Maxime,
das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren
.
    Goethes Naturstudien bleiben im Kreise der Anschauung und beschränken sich auf das, was sich anschaulich machen läßt. Goethe bevorzugt die morphologische und die typologische Betrachtungsart. Die Morphologie fragt nach dem Zusammenhang der Gestaltenreihe mit ihren Übergängen und Entwicklungsformen, fragt also danach, wie sich das eine aus dem anderen entwickelt; die Typologie fragt nach der Ordnung, dem Nebeneinander der Typen, ihrer Ähnlichkeiten und Unterschiede, sowie den Formen der Vermischung und Verbindung.
    Mit der phänomenologischen Erfassung und Beschreibung ist für Goethe die Arbeit der Erkenntnis eigentlich geleistet, wenn auch nur vorläufig; denn der Kreis, den wir im Leben und Erkennen ausschreiten, bleibt immer beschränkt und gemessen am Ganzen – vorläufig. Doch innerhalb dieses Kreises kann, was wir mit unseren Sinnen aufgenommen haben, Wahrheitswert beanspruchen. Mit anderen Worten: Goethe hält sich an eine Wissenschaft, bei der uns Hören und Sehen gerade nicht vergeht. Er orientiert sich am Modell einer individualisierten Ganzheit; eine Ganzheit, die nicht als theoretische Konstruktion hinter den Naturdingen zu fassen ist, sondern in ihnen. So wie jeder in sich selbst eine Ganzheit ist, und so wie zum Beispiel das Auge beim Farbsehen die Totalität des ganzen Farbkreises von sich aus ergänzt, wie also alles zu solcher Ganzheit strebt und auf sie antwortet, so erscheint auch jedes Einzelne in der Natur als etwas, das in sich ein Ganzes ist. Beim Anblick eines seltenen Seetiers im Sande am Lido ruft Goethe aus:
Was ist doch ein Lebendiges für ein köstliches, herrliches Ding! Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr, wie seiend!
Die Art, wie Goethe sich der Natur hingibt und wie er seine Naturstudien betreibt führt ins Zentrum seines Selbst- und Weltverständnisses.
    Blicken wir kurz zurück. In der Phase des ›Sturm und Drang‹ galt ihm Natur als Inbegriff subjektiv-gefühlsstarker Eigenmacht. Natur war im Sinne Rousseaus das Lebendige im Gegensatz zu Konvention und gesellschaftlicher Regel. Es ging um das ungehemmte Ausströmen dieser subjektiven Natur. Es kann dabei zu Konflikten kommen. Die Wogen der natürlichen Spontaneität können sich an der gesellschaftlichen Wirklichkeit brechen. Natur ist also primär die schöpferische Natur im Menschen selbst, deshalb ist die frei strömende Poesie ganz Natur und eben kein Machwerk. Und was die äußere Natur betrifft, so wird sie so gesehen wie die eigene, von innen erfahrene Natur: schöpferisch, wild, reich.
    Mit dem Hineinwachsen in die Pflichten des Amtes, mit der Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung, mit solcher Objektivierung des Lebens rückt nun auch die Natur als objektive Macht stärker in den Blick. Der genialische Poet, der so gerne seiner inneren Natur folgt, gerät in die Schule des Realitätsprinzips. Damit verändert sich auch das Interesse an der Natur. Bei der Harzreise im Winter 1777 war Goethe zwar auch unterwegs zu sich selbst, doch äußerlich wollte er die Bergwerke dort erkunden. Es geht um beides, um Wiederbegegnung mit der eigenen schöpferischen Natur und um nutzbringende Arbeit an der äußeren Natur. Auffällig ist: In den letzten Jahren vor dem Aufbruch nach Italien wird das Reich der Mineralien für Goethe immer anziehender, die versteinerte Natur also. Dies ist Symptom dessen, daß ihm auch sonst das Starre und Leblose auf fatale Weise näher rückt. Und darum muß er sich befreien. Ehe sich die möglichen Konflikte zuspitzen, weicht er aus. In Italien findet er durch südliche Lebensgenüsse und Kunst wieder zu einer Balance zwischen Realitätssinn und Poesie, bei der weder das äußere Leben am inneren noch das innere Leben am äußeren Schaden nimmt. Dieses Ringen um Harmonie läßt sich am »Torquato Tasso« ablesen. Goethe hatte das Drama konzipiert, als er die
Mittelstimme
des Ausgleichs zwischen Welt und Poesie noch nicht gefunden hatte, und erst nach der Rückkehr aus Italien konnte er das Drama fertigstellen. Tasso ist zwar jetzt immer noch der an seiner Umwelt leidende Dichter, doch die Realität bekommt in Gestalt des Antonio

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