Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
Ausnahme: Wir
hatten angenommen, er habe den Mord an Daniel Baumert auch geplant wie die anderen,
doch es war eine spontane Entscheidung. Dadurch unterlief Rico Grüner der einzige
handwerkliche Fehler. Das Wissen über Insulin hatte er von seiner Mutter, die als
Krankenschwester in der Diabetikerambulanz des Weimarer Krankenhauses gearbeitet
hatte. Damit gelang ihm ein elegant-makaberer Schachzug, mit dem er Fedor Balow
und mich gleichzeitig zu bestrafen suchte. Einige Informationen zu Goethe hatte
ihm Zöld aus der Unibibliothek Jena besorgt, den Rest holte er sich aus der Herzogin
Anna Amalia Bibliothek, in der er als Michael Müller aus der Bonhoefferstraße 4
eingetragen war. Unter dem gleichen Namen führte ihn der japanische Kampfsport-Club
im Gewerbegebiet Kromsdorf-Süd.
Es war bereits 21 Uhr. Ich war sehr
müde, sehnte mich nach einem ruhigen Wochenende mit Hanna, zwei bis drei Tassen
Espresso und einem Besuch im Goethehaus, das ich in den vergangenen zwei Wochen
sträflich vernachlässigt hatte. Doch eine Frage musste noch geklärt werden. Ich
bat Kriminalrat Lehnert, in den Vernehmungsraum gehen zu dürfen. Er nickte.
Ich öffnete die Tür. Siggi winkte
mich herein. »Sie kennen Herrn Wilmut ja bereits.«
Grüner nickte, schaffte es jedoch
nicht, mir ins Gesicht zu sehen.
Ich brauchte eine Weile, bis ich
sprechen konnte. Man sitzt nicht alle Tage seinem Beinahe-Mörder gegenüber. »Warum
… haben Sie mir dieses Rätsel geschickt?«
»Die Japaner stehen für ehrenvollen
Sport«, presste er hervor, »der Gegner bekommt immer eine kleine Chance.«
»Die war allerdings sehr klein.«
»Nicht klein genug für Sie …«
»Und warum bekam nur ich diese Chance?«
»Jeder hatte seine Chance, jeder
auf seinem Gebiet.« Er sprach jetzt klar und konzentriert. »Fedor habe ich die Chance
gegeben, Sabine zu heiraten. Er hat nur gelacht.«
»Und Hans Gegenroth?«
»Er hat mich vor der ganzen Klasse
gedemütigt und sollte sich zur Strafe vor der gesamten Öffentlichkeit bloßstellen.
Er sollte selbst eine Straftat verüben und dann ins Gefängnis gehen. Aber er hat’s
vermasselt – sein Pech. Dafür habe ich ihn öffentlich zur Schau gestellt.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Und Daniel hatte seine Chance bereits
zuvor bekommen«, ergänzte er, »Claudias Mutter hat ihn angefleht, zu ihrer Tochter
zurückzukehren.«
Ich stand auf. »Auch wenn diese
Personen Ihnen Unrecht angetan haben, sind sie doch nicht für Ihr verkorkstes Leben
verantwortlich.«
Er starrte auf die Tischplatte.
»Ich … ich musste alle bestrafen. Was sollte ich sonst tun, mein Leben hatte keinen
anderen Zweck mehr …«
Ich schüttelte unwillig den Kopf.
»Sie verstehen das nicht …«
»Nein, das verstehe ich allerdings
nicht.«
»Sie haben diesen Wechsel nicht
mitgemacht. Sie sind zwar hier geboren, aber im Westen aufgewachsen, die BRD war
Ihre gewohnte Umgebung, Ihre normale Lebensform. Die DDR war nur ein Ferienland
für Sie, für uns aber war sie die tägliche Realität.«
»Das stimmt. Jedem ehemaligen DDR-Bürger
gebührt dafür mein Respekt. Trotzdem rechtfertigt das keinen Mord. Und weder der
eine noch der andere Staat ist für Ihre Taten verantwortlich, nur Sie selbst!«
»Herr Wilmut?« Zum ersten Mal sah
er mich direkt an.
»Was wollen Sie denn noch?«
»Ich habe Angst …«
Ich zuckte mit den Achseln.
»… um meine Schwester. Ich habe
meiner Mutter auf dem Totenbett versprochen, mich um sie zu kümmern. Kennen Sie
solche Versprechen?«
Ich konnte nicht antworten.
»Sie braucht Freiheit. Besonders
Bewegungsfreiheit. Können Sie sich vielleicht ein wenig um Sabine kümmern?«
Ich hatte die Türklinke schon in
der Hand, drehte mich noch einmal um. »Gut, Grüner, ich kümmere mich um Ihre Schwester,
Sie haben ja noch etwas gut bei mir.«
»Abführen!«, befahl Siggi.
Das Letzte, was ich von Rico Grüner
sah, war seine hagere, schmale Gestalt, die sich über den Flur entfernte. Ich schloss
die Tür. Es war 21.32 Uhr.
Um genau 21.52 Uhr an diesem Freitag, den 3. September 2004, stand
ich vor Büchlers Haus in der Humboldtstraße. Endlich. Endlich konnte dieser Tag
zu Ende gehen. Dieser Tag der Verdammnis und Erhörung. Hanna öffnete. Als sie mir
in die Augen sah, wusste ich, dass etwas passiert war.
»Mutter ist tot.«
Ich nahm sie in den Arm. Sie weinte
nicht mehr. So standen wir ein paar Minuten in der Tür. ›Der Tod ist nichts Endgültiges.‹
Das hatte der Pfarrer gesagt.
»Deine Mutter hat dir
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