Goetheruh
und man konnte seinem Gesichtsausdruck entnehmen, wie stark die Schmerzen gewesen sein mussten.
»Ich denke, niemand kann einen Menschen dafür verantwortlich machen, dass er krank ist«, sagte Bernstedt langsam. Alle waren damit einverstanden.
»Was willst du damit sagen?«, fragte Sophie etwas skeptisch.
»Na ja, wenn Selbstmord auf einer Krankheit beruht, oder zumindest beruhen kann, dann sollte man den Selbstmörder nicht verurteilen, und somit auch nicht Goethe!«
Ich hatte das Gefühl, dies sei ein schöner Endpunkt unserer Diskussion. Benno schien das Gleiche zu empfinden.
»Gut«, sagte er ein wenig feierlich, »ich danke euch sehr für die lebhafte Diskussion. Und ich danke Hendrik für seine interessanten Beiträge. Es hat viel Spaß gemacht.«
Ich freute mich über dieses Lob.
Benno fuhr sanft, aber bestimmt fort: »Zum Abschluss halte ich also fest, dass Goethe den Suizid von Werther als Metapher benutzt hat, um die Emanzipation des Individualismus und des Gefühls gegenüber der Konvention zu unterstützen.«
Wahr oder nicht wahr – jedenfalls gefiel mir diese Formulierung. Wir hoben die Gläser und stießen an. Es wurde still an unserem Tisch. Draußen war es dunkel geworden, wir waren die letzten Gäste, nur Thomas stand noch hinter seinem Tresen und hörte uns zu.
In diesem Moment ahnte ich nicht, welch wichtige Rolle der Inhalt unserer Diskussion in den nächsten drei Wochen für mich spielen sollte.
2. Gefunden
E
s war ein strahlender Sommermorgen. Ich hatte sehr gut geschlafen und spürte eine tiefe Befriedigung aufgrund der Diskussion mit meinen neuen Freunden. Je näher ich dem Goethehaus kam, desto stärker wurde allerdings meine Beunruhigung wegen der gestohlenen Gegenstände. Vom Parkplatz in der Puschkinstraße lief ich links hinauf zum Goethehaus. Die anderen warteten bereits. Wir gingen hinein und mischten uns auf ausdrücklichen Wunsch von Martin Wenzel unter die Touristen, später wollten wir uns dann in seinem Büro im Erdgeschoss treffen.
Wir nahmen den normalen Besuchereingang, der vom Goethemuseum aus durch eine Seitentür in den Innenhof des Goethe-Wohnhauses führt. In der Mitte des Hofs, der wie ein breit gezogenes U geformt ist, blieb ich stehen. Der kleine Brunnen plätscherte wie eh und je und gab mir das Gefühl von Unvergänglichkeit. Das gleichmäßige Geräusch des fließenden Wassers mochte glauben machen, der Brunnen sei seit Goethes Zeit nie zum Stillstand gekommen.
Wir wandten uns dem Vorderhaus zu und betraten es durch den zum Hof gelegenen Eingang des Haupttreppenhauses. Durch diesen Eingang kamen zu Goethes Zeiten die Besucher, die mit der Kutsche anreisten. Der Kutscher fuhr durch das linke Tor in den Hof, hielt in der Mitte des breiten Us, die Gäste stiegen aus und der Kutscher verließ das Anwesen durch das rechte Tor – für die damalige Zeit sehr komfortabel. Das große, breite Treppenhaus, das Goethe nach seiner ersten Italienreise gemäß einem italienischem Vorbild einbauen ließ, wirkt noch heute sehr imposant. Es war Ende des 18. Jahrhunderts das einzige dieser Art in ganz Weimar. Von hier gelangt man in die erste Etage. Bevor ich in Goethes Gemächer eintrete, bleibe ich normalerweise auf dem obersten Treppenabsatz stehen und genieße den Blick in dieses ganz besondere Treppenhaus. Nicht so heute – der Sinn stand mir nicht danach. Ohne den ›Salve‹-Gruß auf der Türschwelle zu beachten, betrat ich den Gelben Saal. Dieser Raum stellt den Mittelpunkt des Hauses dar. Hier pflegte Goethe größere Gesellschaften zu geben. Bei der Vorstellung, wie Goethe hier mit seinen Freunden tafelte, überkam mich wieder dieses Gefühl der Unvergänglichkeit. Unterstützt wurde dieser Eindruck von der Art der Präsentation im Goethehaus: Nirgendwo hingen Hinweisschilder oder Erklärungstafeln, das gesamte Haus war so belassen, als sei der Hausherr nur eben kurz weggegangen.
Wenzel führte uns diskret zu einer Tür direkt neben der Büste des ›Zeus von Otricoli‹. Das kleine Esszimmer war durch eine Leine abgetrennt, die Besucher durften es nicht betreten. Da wir uns unauffällig verhalten sollten, gingen auch wir nicht hinein. Ich beugte mich über die Leine und blickte unwillkürlich nach links. Vier Bilder sollten eigentlich an dieser Wand hängen, doch links unten fehlte eines. Unter den ›Eichen im Willingshäuser Wald‹ klaffte ein großes Loch. Es wirkte wie eine Verletzung. Ich hob meine Hand in dem Bestreben, etwas zu tun, und ließ
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