Goetheruh
sie sofort wieder sinken. Im Moment konnte ich nichts tun – noch nicht. Neben der hässlichen Lücke hing ein dilettantischer Zettel mit der Aufschrift: ›Bucht von Palermo und Monte Pellegrino, Christoph Heinrich Kniep, 1788, Federzeichnung, aquarelliert. Zur Zeit in der Restaurierung.‹
Ich saugte den Anblick und die Stimmung in mich auf, ohne auf die vielen Menschen zu achten, die das Goethehaus durchströmten. Ich wollte mich ganz auf den Ort und die Tat konzentrieren und stellte mir vor, ich sei der Täter. Wie konnte man ein Bild aus einem Raum stehlen, durch den sich täglich Hunderte von Leuten bewegten? War er ein eiskalter Profi, der nur das Geld sah, oder ein Fanatiker, nervös, darauf bedacht, seinen Traum wahr werden zu lassen? Und welchen Traum? Ich spürte, dass sehr viel Arbeit vor uns lag, doch ich spürte auch den unbändigen Willen, dieses Rätsel zu lösen. Wie ein Fußballspieler nach dem Gegentor: jetzt erst recht!
Als eine Gruppe französischer Touristen mit einer laut sprechenden Führerin in den Gelben Saal trat, wurde ich aus meinen Tagträumen gerissen. Ich ging weiter durch das Büstenzimmer – auch Brückenzimmer genannt – in Richtung Garten. Vom Gartenzimmer aus wandte ich mich nach links in Christianes Gemächer. In ihrem Vorzimmer blicken Goethe und seine Frau von zwei großen Kreidezeichnungen auf die Besucher herab, nicht jovial oder überheblich, nicht historisch oder altklug wie in einer Ahnengalerie, nein: sympathisch und familiär, wie ein ganz normales Ehepaar, das ab und zu einen kleinen Streit austrägt, sich aber ansonsten liebt und achtet. Man meint sogar, eine gewisse körperliche Anziehungskraft zu spüren. Einige Kunstexperten streiten bis heute darüber, ob das weibliche Porträt tatsächlich Christiane darstellt.
Aus Christianes Wohnzimmer war das nächste Exponat verschwunden: ›Goethes Gartenhaus von der Rückseite, Goethe, 1779/80, Graphit, Feder mit Tusche und Bister, blaue Wasserfarbe.‹ An der Wand zum Garten, direkt neben ›Auf einem Sofa schlafende Christiane Vulpius‹ hatte es gehangen. Ein von Goethe selbst gemaltes Bild – das hatte den Dieb interessiert. Warum? Sein Garten war Goethe immer wichtig gewesen – er war ein Naturforscher, noch viel mehr aber ein Naturliebhaber. Insofern hatte dieses Bild eine sehr persönliche Bedeutung für Goethe. Hatte es damit zu tun? Doch in der Vitrine in Christianes Wohnzimmer waren mehrere handgeschriebene Stücke von Goethe ausgestellt, die womöglich persönlicher waren. Die hatte der Dieb nicht mitgenommen. Etwa die beiden Versionen des Gedichts ›Gefunden‹, in dem Goethe seine Christiane mit einer Blume vergleicht.
Gefunden
Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.
Im Schatten sah ich
Ein Blümlein stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.
Ich wollt es brechen,
Da sagt es fein:
»Soll ich zum Welken
Gebrochen sein? «
Ich wurde von einer fülligen Frau beim Lesen unterbrochen. Sie drängelte sich mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein zwischen mich und die Vitrine, so als meinte sie, ich hätte lang genug dort gestanden.
Warum hatte ihn dieses Gedicht nicht interessiert, diese intimen, zu Papier gebrachten Gedanken? Vielleicht wollte er keine Gewalt anwenden, wollte die Vitrine nicht aufbrechen?
Die Zeichnung des Gartenhauses war technisch gesehen am leichtesten zu stehlen, sie hing ungesichert an der Wand und jeder Besucher hatte freien Zugang zu diesem Raum.
Ganz im Gegensatz zu dem Fußschemel. Das Sterbezimmer durfte niemand betreten. Vom Schreibzimmer aus konnte man lediglich in das Sterbezimmer hineinsehen, das durch ein hüfthohes Gitter und Lichtschranken gesichert war, ebenso wie Goethes Arbeitszimmer.
Der Anblick traf mich wie ein Schlag. Dieses allseits bekannte, ja vertraute Bild von Goethes Sterbestuhl mit dem davorstehenden Fußschemel war zerstört. Der Fußschemel war verschwunden, ja er fehlte so sehr, dass ich mir die Qualen vorstellen konnte, die Goethe im Todeskampf aushalten musste, da er nicht wusste, wo er seine schmerzenden Füße hinlegen sollte. Ich konnte den Anblick nicht länger ertragen und ging hinunter ins Erdgeschoss.
Wir trafen uns in Wenzels Büro, dort wo früher Goethes Wirtschaftsräume waren. Es kam mir vor wie der Übertritt in eine andere Welt. Moderne Büromöbel, Aktenschränke aus Metall, Telefon, Fax – irgendwie hatte ich darauf im Moment keine Lust. Ich sah
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