Götter der Nacht
in einem großen leeren Saal. Ohne die
ausgeräumten Regale zu beachten, begibt sich Drékin geradewegs zu einer der Marmorsäulen und geht hinter ihr in die Hocke.
Als er den versteckten Mechanismus betätigt, öffnet sich eine Klappe im Boden. Drékin zieht die Leiter zu sich heran und setzt vorsichtig den Fuß auf die oberste Sprosse. Er misstraut dem Holz, das nach all den Jahren morsch sein könnte. Dann steigt er noch zwei Sprossen hinunter und leuchtet mit seiner Kerze in die Dunkelheit hinein.
Natürlich hat sich nichts verändert. Alles ist noch genauso, wie er es vor achtundzwanzig Jahren zurückgelassen hat.
Behutsam steigt er Sprosse um Sprosse in das Versteck hinab und achtet darauf, seine Kerze nicht fallen zu lassen. Hier unten lagern so viele Hefte, Schriftstücke und Pergamentrollen, dass er im Feuer ersticken würde, noch bevor er wieder nach oben gelangen könnte.
Obwohl ein Brand keine schlechte Lösung wäre …
Sein Blick schweift durch den winzigen Raum, kaum größer als ein Schrank, in dem die Maz seit Jahrhunderten gefährliche Schriften aufbewahren. Turmhohe Bücherstapel und Unmengen achtlos übereinandergeschichteter Dokumente füllen die Kammer, als wäre hier der ganze Unrat des Tempelarchivs angehäuft. Doch Drékin muss das, was ihn hergeführt hat, nicht lange suchen. Er weiß genau, wo es sich befindet.
Das schmale Büchlein liegt an seinem Platz ganz oben auf einem Stapel. Sachte wischt der Priester den Staub vom Einband. Auf dem mit den Jahren steif gewordenen dunklen Leder leuchten ein Titel und ein Name auf. Der Menschheit zum Angedenken. Maz A. von Algonde.
Drékin seufzt traurig. Gedankenverloren öffnet er das
Tagebuch und überfliegt einige Zeilen. Dann schlägt er es rasch wieder zu und erschauert bei dem Gedanken an die darin verborgenen Geheimnisse.
Lana ist nicht mehr in Mestebien. Hat man sie getötet? Ist sie geflohen? Er weiß es nicht. Aber er kann nicht länger mit diesen Gewissensqualen leben. Er darf nicht riskieren, dass der Inhalt des Tagebuchs eines Tages ans Licht kommt.
Das ist er sich schuldig. Selbst wenn er dafür gegen all seine Prinzipien verstoßen muss.
Mein Meister schöpft seine Stärke nicht nur aus seiner eigenen Macht. Er versteht es, sich mit außergewöhnlichen Männern zu umgeben. Mit Männern wie mir.
Seine Kräfte erheben ihn in den Rang eines Gottes. Er kann sich seine Verkünder nach Belieben erwählen. Wir sind seine Verbündeten. Seine Hauptmänner.
Seine verdammten Seelen, sagen die Sklaven hinter unserem Rücken.
Mein Meister hat ein so riesiges Heer, dass er treue Gefolgsmänner braucht, denn unsere Armee wird im Laufe ihrer Feldzüge nicht etwa kleiner, sondern wächst von Tag zu Tag.
Wobei unsere Armee eher eine Horde ist. Eine Horde Barbarenkrieger, die archaische Sprachen sprechen, primitive und blutrünstige Rohlinge, die sich ebenso gern auf den Feind stürzen, wie sie sich untereinander zerfleischen. Sie haben kein höheres Ziel. Sie zeigen keine Ehrfurcht. Sie widern mich an. Aber ihre gewaltige Kraft ist berauschend.
Mein Meister ist ein vortrefflicher Stratege. Sein einziger Schwachpunkt ist die Gleichgültigkeit, mit der er unsere Verluste hinnimmt. Auch wenn unsere Truppenstärke anscheinend unerschöpflich ist, widerstrebt es mir, unsere Feinde in der Illusion
eines kurzfristigen Sieges zu wiegen, indem wir unnötig einige Hundert Mann opfern.
Manchmal lässt sich mein Meister dazu herab, auf meine Ratschläge zu hören. Dann fügen wir unseren Gegnern vernichtende Niederlagen zu. Viele der Besiegten sind so beeindruckt, dass sie lieber in unseren Reihen kämpfen, als uns als Sklaven zu dienen. Das macht mich sehr stolz. Zur Belohnung dürfen manche ihre ältesten Söhne mitbringen. Mit den Übrigen, den Frauen, Greisen, Kindern, Kranken und Krüppeln, verfährt mein Meister nach Belieben. Unser Großes Werk stopft keine überflüssigen Mäuler.
Vielleicht ist es das, was unser Großes Werk ausmacht: die Nutzlosen, Unfähigen, Schwachen und Minderwertigen auszuradieren. Mein Meister ist gewiss eine Inkarnation Zuïas.
Ich sagte, dass er sich mit außergewöhnlichen Männern umgibt. Ich muss hinzufügen, dass diese mir nicht unbedingt sympathisch sind - allen voran die beiden Männer, die er zu seinen Heerführern ernannt hat.
Den ersten kenne ich noch nicht, doch die Schreiben, die er an uns richtet, lassen mich an seiner geistigen Verfassung zweifeln. An den zweiten verschwende ich gar
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