Götter der Nacht
hatte. Wenn die Menschheit davon erfuhr, würde sie entweder einen großen Entwicklungssprung machen oder im Wahnsinn versinken. Sollten sie das Geheimnis enthüllen oder nicht?
Fortan würden auch die Erben diese Bürde zu tragen haben. Nun mussten sie die Züu aus einem weiteren Grund fürchten, der noch viel schwerer wog als ihr eigenes Überleben. Was, wenn Zuïa eines Tages mächtig genug wäre, um unter den Menschen zu leben? Was, wenn Phrias durch die an ihn gerichteten Gebete tatsächlich zu dem Kriegerdämon würde, als den ihn seine Anhänger beschrieben? Was, wenn Soltan, Yoos und K’lur eines Tages Gestalt annahmen?
Vielleicht geschah das alles bereits. Vielleicht ermöglichten die bösen Gefühle der Sterblichen den Dämonen schon jetzt, für eine gewisse Zeit an den Orten, an denen sie am meisten gefürchtet wurden, zu erscheinen. Vielleicht reichte die Angst der Menschen aus, um ihnen die nötige Kraft zu verleihen - ihre Angst und die Verehrung ihrer machtgierigen oder gedankenlosen Anhänger.
Von nun an würde den Erben jedes Mal ein Schauer über den Rücken laufen, wenn jemand den Namen eines Dämons aussprach. Sie würden unweigerlich daran denken, wie dieses Geschöpf irgendwo auf der Welt - oder in einer anderen, nicht weit entfernten - nur darauf wartete, dass jemand an ihn dachte.
»Wenn wir das Geheimnis enthüllen, versinkt die Welt im Chaos«, sagte Grigán nachdenklich.
»Aber so einfach kann das doch nicht sein«, entgegnete Léti. »Es braucht bestimmt Tausende, wenn nicht gar Hunderttausende von Gläubigen, um einen Gott zu erschaffen. Und das über mehrere Jahrhunderte hinweg.«
»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Woher sollen wir das wissen?«
Niemand gab eine Antwort. Die Folgen ihrer Entdeckung waren unabsehbar, und sie wussten immer noch viel zu wenig darüber. Sie hätten tagelang weiterreden können und sich doch nur im Kreis gedreht. So war es vermutlich auch ihren Vorfahren ergangen. Doch während die Gesandten damals nur Vermutungen angestellt hatten, standen die Erben einer tatsächlichen Bedrohung gegenüber, einer unmittelbaren Gefahr. Das rief ihnen Bowbaq nun ungewollt in Erinnerung:
»Hilft uns dieses Wissen denn dabei, Saat zu besiegen?«, fragte er ohne große Hoffnung.
Corenn schüttelte bedauernd den Kopf. Nichts von dem, was sie bisher im Tiefen Turm von Romin und in Maz Achems Tagebuch gefunden hatten, vermochte zu erklären, warum der Goroner hundert Jahre nach seinem Tod plötzlich wieder aufgetaucht war, über erschreckende Kräfte verfügte und den Erben nach dem Leben trachtete.
»Vielleicht liegt die Lösung in der Fortsetzung des Textes. Wir müssen die Geheimschrift entschlüsseln.«
»Und was machen wir bis dahin?«, fragte Rey. »Das kann Tage dauern!«
Alle sahen zu Grigán und Corenn und warteten darauf, dass die beiden Anführer eine Entscheidung trafen. Zum ersten Mal seit Dekaden hatten sie nicht die geringste Ahnung, was sie als Nächstes tun sollten.
»In Ith können wir nicht bleiben«, sagte Grigán. »Nicht
nach allem, was passiert ist. Früher oder später würden uns die Züu finden.«
Das war allen klar. Die Gefährten wussten ja noch nicht einmal, wie es sein konnte, dass die Mörder sie in der Heiligen Stadt erwartet hatten. Ihr Feind schien ihnen immer einen Schritt voraus zu sein.
»Saat befindet sich irgendwo jenseits des Rideau«, sagte Corenn vorsichtig und lauerte auf Grigáns Reaktion.
Der riss überrascht die Augen auf und runzelte nachdenklich die Stirn. Er stand auf, lief unruhig ein paar Schritte auf und ab und starrte zu den hohen Bergen hinauf, die aus dem dichten Wald emporzuragen schienen, in dem sie sich versteckt hatten. Dann kehrte er zu den anderen zurück.
»Ich glaube nicht …«, begann er.
Sechs Menschen warteten darauf, dass er eine Entscheidung traf. Sechs Menschen verließen sich auf ihn, und er musste ihnen die Richtung weisen. Grigán sah keinen anderen Weg als den, den Corenn vorgeschlagen hatte. Wäre er auf sich allein gestellt gewesen, hätte er keine Dezille gezögert.
»Nun gut«, sagte er schließlich widerstrebend. »Wir werden Saat suchen. Auf der anderen Seite der Berge.«
Zum ersten Mal seit langer Zeit würde er sich in unbekanntes Gebiet vorwagen, in der Hoffnung, dort jenen Mann zu finden, der ihren Tod wollte. Den Mann, der das Geheimnis des Jal’dara ebenso gut kannte wie sie.
Am Abend lagerten sie am Ufer des Beremen, einem der beiden Flüsse, die durch
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