Götter der Nacht
wirkt.
Alles ist im Gleichgewicht. Wer diesen Kampf gewinnt, ist völlig offen.
An dieser Stelle brach Lana ab. Ihre Gefährten glaubten, sie ringe um Fassung, da sie von ihren Gefühlen überwältigt wurde. Doch ihr plötzliches Schweigen hatte andere Gründe.
»Der Rest ist unleserlich«, sagte sie. »Ich kann nichts mehr entziffern.«
»Hat das Wasser die Tinte verwischt?«, fragte Corenn besorgt.
»Nein. Ich kann die Wörter nicht lesen. Vielleicht sind sie in einer fremden Sprache geschrieben. Oder in einer Geheimschrift.«
Die Maz reichte ihren Freunden das Tagebuch. Die anderen warfen einen kurzen Blick auf die Seite und gaben ihr das Buch dann zurück. Lana, Rey und Corenn beherrschten zusammen sechs Sprachen, doch keiner von ihnen wurde aus der seltsamen Aneinanderreihung von Buchstaben des itharischen Alphabets schlau.
»Seht mal weiter hinten nach«, schlug Grigán vor. »Vielleicht finden sich dort lesbare Passagen.«
Lana tat wie geheißen. Sie litt darunter, die Neugier ihrer Freunde nicht stillen zu können. Léti hatte ihr das Tagebuch
schon vor einem Dekant übergeben, doch während ihrer Flucht aus der Heiligen Stadt hatte sie nicht die Zeit gefunden, es sich genauer anzusehen. Und nun schon nach wenigen Seiten eine solche Enttäuschung! Bei Eurydis, wie konnte das Schicksal so grausam sein!
»Achem hat anscheinend alle Passagen, in denen er die Reise der Gesandten nach Ji schildert, in einer Geheimschrift verfasst«, sagte Yan. »Auf diese Weise konnte er seinen Schwur halten.«
»Aber er hatte ihn doch ohnehin längst gebrochen«, bemerkte Rey. »Schließlich hat er den Emaz von der Existenz des Jal’dara erzählt.«
»Er hat das Jal’dara mit keinem Wort erwähnt«, entgegnete Lana. »Weder in seinen Reden noch in seinen Schriften. Er hat seinen Schwur nicht gebrochen.«
»Aber er hat sein Wissen genutzt, um die Politik des Tempels zu beeinflussen«, sagte Rey. »Wie auch immer. Außer einem Maz interessiert sich ohnehin niemand für hochtrabende Diskussionen über Gut und Böse.«
Lana hörte auf, in dem Buch zu blättern, und sah ihn an. Sie hatte sofort begriffen, welche Tragweite die Niederschrift hatte, und war davon ausgegangen, dass es den anderen ebenso ergangen war.
»Hier geht es um sehr viel mehr als um theologische Feinheiten, Reyan«, erklärte sie ernst. »Versteht Ihr denn nicht? Das Tagebuch lüftet das Geheimnis unserer Ahnen! Hier steht es, schwarz auf weiß! Endlich kennen wir den Grund für ihre Qualen!«
»Ich glaube, ich komme auch nicht so ganz mit, Freundin Lana«, warf Bowbaq scheu ein.
In der Hoffnung, dass wenigstens Corenn die Bedeutung von Maz Achems Worten verstanden hatte, sah Lana
sie Hilfe suchend an. Sie hoffte nicht vergebens. Corenn fasste die Lage sehr viel besser zusammen, als sie selbst es gekonnt hätte: »Falls Achem die Wahrheit sagt, hängt die Macht eines Gottes von der Aufmerksamkeit ab, die ihm die Menschen zuteilwerden lassen. Anders ausgedrückt: Je mehr Anhänger er hat, desto einflussreicher und unangreifbarer wird er.«
»Jedenfalls, solange er noch ein Kind ist«, ergänzte Lana. »Das Gedicht von Romerij spricht nur von Kindern.«
»Wenn das bekannt würde«, fuhr Corenn fort, »könnten sich die Menschen zusammenschließen, gemeinsam einen neuen Gott erschaffen, ihm einen Namen geben und ihm bestimmte Wesenszüge und Kräfte verleihen, um ihn für ihre Zwecke zu benutzen.«
»Verzeiht«, unterbrach sie Rey. »Aber wie benutzt man einen Gott? Corenn, ich will Euch nicht zu nahe treten, aber ist Euch klar, was Ihr da sagt?«
»Versucht, unvoreingenommen zu sein. Nachdem Ihr die Pforte von Ji, Usul, die Gespenster und den Mog’lur gesehen habt, glaubt Ihr doch wohl an die Existenz der Götter?«
»An ihre Existenz wohl. Jetzt schon. Aber deshalb glaube ich noch lange nicht, dass man sie mit einem Fingerschnippen heraufbeschwören und für eigene Zwecke einspannen kann …«
»Und doch scheint genau das möglich zu sein«, sagte Lana, »wenn ein Gott eigens dafür erschaffen wurde. Weise Eurydis! Das alles ist so … erschütternd … frevelhaft …«
»Unhöflich?«, schlug Bowbaq vor, der es immer mehr mit der Angst zu tun bekam.
»Das könnte man so sagen. Wenn Menschen Götter erschaffen und sie ihrem Willen unterwerfen können …
Wie entsetzlich! Wie grauenvoll! Dafür sind wir nicht bereit!«
Endlich verstanden die Erben, worin der Fluch der Insel Ji bestand und welche Verantwortung auf ihren Ahnen gelastet
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