Götterdämmerung
von seinem Gesicht lassend, hakte Beatrice nach: »Drogenmord im ländlichen Louisiana? Ich dachte, so was kommt nur in der Großstadt vor?«
»Von wegen. Bloß weil die Hälfte der Leute dort nicht buchstabieren kann, bedeutet das noch lange nicht, dass sie nicht wissen, wie man an Stoff kommt.«
Beatrice blieb stehen und löste ihre Hände aus den seinen. Über seine Schultern hinweg sah sie auf das, was er ihr hatte zeigen wollen. Seit er Alaska zum ersten Mal betreten hatte, ging ihm der Widerspruch nicht aus dem Kopf, der die Schönheit dieser Landschaft ausmachte. Einerseits war sie urtümlich, die Welt, die gerade erst im Aufwachen begriffen war, zwischen einem Gähnen und einem Blinzeln. Ob nun die Fjorde, mit denen die See ihre Arme ins Landesinnere ausstreckte, oder die Berge, die sich gegen den Blick auftürmten wie versteinerte Giganten, man hatte den Eindruck, als müssten in den nächsten fünf Minuten Mammuts oder gar Dinosaurier auftauchen.
Wegen des großen Erdbebens Ende der sechziger Jahre war kein Gebäude hier sehr alt, und die vielen Segelboote, die im Hafen von Seward vor Anker lagen, schienen nun ganz und gar aus einer anderen Welt zu kommen. Ihre fragile Eleganz hatte etwas Mediterranes, sie entstammten einer Welt, die sich die Muße gönnte, nur zum eigenen Zeitvertreib zu fischen und zu segeln, und doch verschmolzen sie vor den der Prähistorie entwachsenen Bergen zu einem harmonischen Ganzen.
»Es ist wunderschön«, sagte sie schließlich leise. Sie löste das Kopftuch, das sie unter ihrem Kinn verknotet hatte, und ließ es fallen. Der leichte Wind, der vom Wasser her kam, erfasste es und trieb es zurück in Richtung der Straße, ein störrisches rotes Knäuel.
Ihre Haare waren kastanienbraun, leicht niedergedrückt, als habe man sie mit Gewalt geglättet. Sie reichten ihr bis zur Schulter, wo sie sich wie ein ineinander greifendes Collier um ihren Hals bogen. Die Sonne, die unglaubliche, um ein Uhr nachts noch scheinende Sonne, setzte rötliche Funken hinein und malte ihr bleiches Gesicht wie Marmor, der sich unter der Hand eines Bildhauers erwärmt.
Es war nicht ungefährlich. Auch ohne eine Lichtallergie fehlten ihr nach all den Jahren ohne direkte Sonneneinstrahlung die schützenden Pigmente; eine Haut wie Porzellan, das zerbrechen konnte, wenn sie es nicht behutsam anging. Neil brachte es nicht über sich, etwas zu sagen. In diesem Moment dachte er nicht mehr an Sanchez oder Livion, nicht an ein revolutionäres Medikament, das der Menschheit unter Umständen vorenthalten wurde, nicht an Vorsicht und nicht an ominöse Drohungen. Er sah sie nur an und wünschte sich, für immer in diesem einen Moment verharren zu können.
»Lass uns spazieren gehen«, sagte sie, und in ihrer Stimme schwang ein Rest von Furcht und das Aufkeimen von Übermut gleichzeitig mit. »Ich bin noch nie in Seward spazieren gegangen.«
Oder sonst irgendwo, dachte Neil und spürte dringender denn je den Wunsch, Victor Sanchez den Hals umzudrehen. Oh, er konnte sich die Geschichte mittlerweile ganz gut zusammenreimen. Ich glaube nicht an Scheidung. Elaine Sanchez war vermutlich nicht wirklich gestorben, sondern hatte ihren Mann verlassen, der sich danach bei seinem alten Freund am Strand von Miami ausweinte und anschließend irgendwo ein Baby adoptierte, um in dem Luxusexil zu leben, das Livion ihm bezahlte, damit er den Mund über seine Entdeckung hielt. Und um ganz sicherzugehen, dass ihn seine Tochter später nicht verlassen würde, unterzog er sie von Kindheit an dieser Gehirnwäsche.
Als sie die Uferpromenade weit genug entlanggegangen waren, um das Seelöwenzentrum sehen zu können, bemerkte Neil, dass sie wieder anfing zu zittern.
»Zurück zum Auto?«, fragte er behutsam.
Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie nicht aufhörte zu zittern.
»Nein«, sagte sie. »Noch nicht. Aber lass uns etwas schneller gehen.«
Sie bogen in die alte Hauptstraße ein, deren kunstvoll geschmiedete Laternenpfähle in diesem neuen Land exotisch wirkten. Er beschloss, sie abzulenken, bis sie nicht mehr daran dachte, dass irgendetwas an ihrem Hiersein ihr einmal Angst eingejagt hatte.
»Lass uns irgendwo einkehren«, schlug er vor. »Ich würde dich ja gerne ausführen, aber ich fürchte, das Marriott dürfte bereits geschlossen haben.«
Beatrice lachte und hakte sich bei ihm unter. Mit Blick auf das nächste Schild entgegnete sie: »Dennys Kneipe tut es auch.«
Dennys Kneipe erwies sich als ein Laden, in dem der
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