Götterdämmerung
gesehen. Ich weiß nicht, warum sie überhaupt stabil ist. Weißt du, wie die meisten Gegenmittel für Viren funktionieren? Die Erbgutinformationen ihrer Basen werden so oft mit falschen Bausteinen überfrachtet und zu so schneller Reproduktion angeregt, dass sie irgendwann in sich selbst zusammenfallen.«
Neil nahm sich zusammen und beschloss, seinen Weg durch das Dickicht wissenschaftlicher Verklausulierungen mit der einfachsten Axt zu hacken, die ihm zur Verfügung stand.
»Aber du bist nicht krank?«
»Nein. Ich bin nicht krank. Ich bin völlig gesund. Ich war immer gesund. Ich hatte noch nicht mal die üblichen Kinderkrankheiten, aber ich dachte immer, das hätte an der steril gehaltenen Laborumgebung gelegen«, entgegnete Beatrice. Dann zog sie langsam ihre Handschuhe aus. Ihre Finger waren lang und schmal, ohne einen Ring; im Gegensatz zu den meisten Frauen, die Neil kannte, waren ihre Nägel unlackiert und kurz geschnitten. Sie krempelte den Ärmel ihrer Bluse zurück; in der Armgrube sah er ein kleines Pflaster.
»Ich habe im Lauf der letzten Woche jeden Tag eine Blutprobe genommen, zuletzt heute Morgen um sieben Uhr«, sagte sie. »Aber das Pflaster, was du siehst, ist unnötig.«
Sie riss es ab. Darunter zeigte sich ein geröteter Fleck, doch kein verkrustetes Blut. »Es ist schon wieder verheilt. Gesteigerte Zellreproduktion, verstehst du? Ich benutze die Pflaster nur, weil mir die Desinfektion von noch so kleinen Wunden von Kindheit an eingetrichtert wurde.«
»Das kann dir unmöglich jetzt erst aufgefallen sein«, sagte Neil.
»Nein, ich wusste schon immer, dass Schrammen und dergleichen bei mir schnell heilen. Aber verstehst du, Neil, bei uns führt niemand an sich selbst die monatlichen Check-ups durch. Das tut Mrs. Winterbottom. Und mein Vater hat mir jedes Mal die Ergebnisse mitgeteilt.«
Methodisch und langsam krempelte sie den Ärmel wieder hinunter.
»Ich muss das Ergebnis einer ganzen Reihe von Versuchen gewesen sein«, sagte sie, und durch den bemüht sachlichen Ton ihrer Stimme drang, wie eine Flöte in einem Streichquartett, ein Fremdkörper, den Neil als unterdrückte Panik identifizierte. »Und es muss hier in Alaska geschehen sein; die normalen Labors hatten so früh noch nicht die Ausrüstung für solche Experimente. Aber es ist noch nicht einmal sein Geheimnis allein. Warren weiß es, da bin ich mir sicher. Aber die anderen Laborangehörigen…«
Sie verstummte und biss sich auf die Lippen. »Seit ich es entdeckt habe«, fuhr sie mit gepresster Stimme fort, »frage ich mich bei allen, die nicht erst im Laufe meines Lebens eingestellt wurden, ob sie es ebenfalls wissen. Ob sie mich alle beobachten. Schließlich bin ich ganz offensichtlich«, sie unterbrach sich, als sie merkte, dass sie laut genug geworden war, um sogar ein paar der Nachtschwärmer dazu zu bewegen, den Kopf zu ihnen umzuwenden, und senkte ihre Stimme wieder, »ein Experiment!«
Impulsiv streckte er die Arme aus und umfasste ihre Hände mit den seinen. »Du bist ein Mensch, Beatrice«, sagte er und spürte die weiche, zarte Haut, die nie durch natürliches Licht verbrannt worden war. »Du bist eine Frau.«
»Tut mir Leid. Ich habe eigentlich kein Recht, mich so aufzuspielen. Schließlich bin ich alles andere als gegen Genmanipulation. Kannst du dich an den Chat erinnern, in dem ich mich mit Dedalus darüber gestritten habe, und wie ich sagte, es gebe keinen Grund, um Kinder mit einer Erbkrankheit zur Welt kommen zu lassen, wenn man es verhindern kann?«
Er nickte. Einer der anderen Gäste erhob sich von seinem Barhocker und ging zu der alten Jukebox in der Ecke. Als die ersten Takte zu ihnen drangen, machte Neil einen Versuch, Beatrice aufzuheitern, und sagte scherzend: »Tja, ich nehme an, es ist zu viel, hier auf Queen zu hoffen, aber müssen es die Pet Shop Boys sein?«
Mit dem ansteckenden Lächeln, das er an ihr vermisst hatte, entgegnete sie: »Die Pet Wer?«
»Was nicht alles im Dunst der achtziger Jahre versunken ist«, sagte Neil mit einer übertriebenen Grimasse und unterdrückte gerade noch rechtzeitig die Frage, ob ihr in ihrem Labor überhaupt Pop und Rock begegnet war. Außerdem fiel ihm Julie mit ihren CDs ein, die er nicht identifizieren konnte, und der Gedanke versetzte ihm einen Stich. Gewiss drohte Julie und Ben keine ernsthafte Gefahr. Nichts als eine leere Drohung, von der Überzeugung getragen, dass er sich einschüchtern ließ. Dennoch, zum ersten Mal in seinem Leben war er wirklich
Weitere Kostenlose Bücher