Götterdämmerung
längliche, in einem Oval endende Ausschank von den Nachtschwärmern umlagert war, während die wenigen Tische und Stühle in den Raumecken leer blieben. Über der Bar hing die ausgefallenste Kollektion von Seemanns- und Soldatenmützen, die man sich vorstellen konnte.
Neil und Beatrice setzten sich in eine Ecke, und Beatrice starrte auf ihre immer noch behandschuhten Hände.
»Neil«, sagte sie unvermittelt, »als ich mein Blut untersuchte, habe ich noch ein paar andere Sachen festgestellt. Weißt du, wie man einen Vaterschaftstest macht?«
»Nicht im Detail«, erwiderte er, und in der festen Überzeugung, bereits zu wissen, was sie ihm sagen wollte, fügte er hinzu: »Ich weiß nur, dass er negativ funktioniert. Du kannst nicht beweisen, dass jemand dein Vater ist, aber du kannst nachweisen, dass er es nicht ist. Tut mir Leid, Beatrice. Ich wollte es dir schon länger erzählen, aber ich dachte, du würdest mir nicht glauben, und außerdem würde es dich nur verletzen.«
»Was?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn. »Was wolltest du mir schon länger erzählen?« Offenbar bereitete es ihr noch immer Mühe, es sich selbst einzugestehen.
»Elaine Sanchez konnte keine Kinder bekommen«, sagte er langsam, »und es existieren nirgendwo Unterlagen, dass Victor Sanchez je mit einer anderen Frau eine Tochter gehabt hat. Sie müssen dich adoptiert haben.«
Sie schüttelte den Kopf, nicht heftig, sondern bestimmt.
»Das ist es nicht, was ich entdeckt habe, Neil. Eher im Gegenteil.«
Nun war es an ihm, verwirrt zu sein.
»Was du über Nachweise sagst, ist überholt«, erklärte sie. »Wir haben die menschliche DNA erstaunlich weit entschlüsseln können. Und es war genügend Blut meines Vaters im Labor vorhanden, wegen all der Sicherheitsbestimmungen und den regelmäßigen Tests. Nein, wir sind nachweislich miteinander verwandt. Aber ich verstehe immer noch nicht ganz, was ich da gefunden habe. Es scheint fast, als…« Sie zögerte, dann schloss sie: »als hätte ich drei direkte Elternteile.« Nach einer kleinen Pause setzte sie hinzu, sehr leise: »Wenigstens.«
Im ersten Moment konnte er nicht begreifen, worauf sie hinauswollte. Vielleicht, weil es völlig außerhalb seiner Theorien über Sanchez lag; Neil glaubte inzwischen zu wissen, was die wesentlichen Teile des Puzzles waren, und hatte geplant, Beatrice während seines Aufenthalts hier mit seiner Theorie zu konfrontieren. Was sie gerade gesagt hatte, gehörte nicht dazu.
Noch verstörender war das Gefühl der Ohnmacht. Beatrice machte den Eindruck einer Schlittschuhläuferin, die gerade entdeckt hatte, wie dünn das Eis unter ihren Füßen war, und er konnte ihr nicht helfen, weil er nichts von der Konsistenz des Eises verstand.
»Aber… wie kann jemand mehr als zwei Elternteile haben?«, fragte er und versuchte, eine Erklärung zu finden, die einen Sinn ergab. »Willst du damit sagen, du seist ein Klon?«, setzte er hinzu und stellte fest, dass er irgendwo zwischen Boston und Alaska seine Objektivität verloren haben musste.
»Nein, geklont bin ich nicht. Wenn ich ein solches genetisches Double wäre, dann hätte ich immer noch normale Erbanlagen, aber eben nur die eines einzigen Menschen. Beim Klonen wird die Zellteilung durch elektrische Impulse angeregt, nicht mit dem Sperma. Was bei mir passiert sein muss… das Grundprinzip ist einfach, und die Methode ist mir bekannt. Sie ist bereits ein paar Mal bei künstlicher Befruchtung angewendet worden. Du bringst ein Spermium und eine Eizelle zusammen. Wenn die Eizelle nicht über ausreichend Lebenskraft verfügt, wird Zellflüssigkeit aus einer zweiten Eizelle, von einer anderen Spenderin, injiziert.«
Sie brachte ihre Erklärungen so sachlich wie möglich vor, doch es war ihr anzumerken, dass sie auf eine entsetzte oder ablehnende Reaktion seinerseits wartete. Wieder hörte er den verlorenen Klang ihrer Stimme am Telefon, als sie ihn bat, nach Alaska zu kommen. Er wusste nicht genau, was er empfand, aber Entsetzen war es nicht. Ganz gleich, wie sie zur Welt gekommen war, sie saß hier vor ihm, kein Bild, kein anonymer Kontakt über das Netz, sondern ein Mädchen, das heute zum ersten Mal die Sonne auf ihrer Haut gespürt hatte.
Sie schaute zu der Mützensammlung an der Bar und nicht zu ihm, als sie hinzusetzte: »Nur ist eine solche Kreuzung von Erbanlagen von der Natur nicht vorgesehen, und die betreffenden Fälle stehen unter permanenter Beobachtung. Bei mir… ich habe so eine Kombination noch nie
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